42. RJR Arbeitstagung in Graz | Sozialgeschichte im Jazz – In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost (1938-2017)

Graz, 09. – 11. Juni 2022

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz.
Moderation: Michael Rüsenberg

Für die 42. RJR-Tagung: Sozialgeschichte im Jazz – In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost (1938-2017) hat unser Kollege Constantin Sieg das beigefügte Interview bereitgestellt. Dieses Jost-Interview fand am 14.08.2011 (22-24.00 Uhr) in der wöchentlichen Sendung „Jazz-Zeit“ statt.

https://drive.google.com/file/d/1Mjf119s0E_fCtqHdumj-kjnGwlUbyWH6/view?usp=sharing

Als in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Fundamente für Jazzforschung auch im deutschsprachigen Raum gelegt wurden, kam ein Grundstein in Graz, wo 1965 eines der ersten Institute in diesem Fach gegründet wurde, zu liegen und ein zweiter in Gießen, wo Ekkehard Jost (1938-2017) im Jahr 1973 zum Professor berufen wurde. Jost hatte im gleichen Jahr mit seiner Habilitationsschrift, der weltweit ersten musikwissenschaftlichen Untersuchung des „Free Jazz“, die bis dato vorherrschende musikwissenschaftliche Analyse durch sozialgeschichtliche Argumente erweitert und mit seinem Werkzeugkasten, in dem soziologische und historische Blickwinkel ebenso selbstverständlich enthalten waren wie psychologische oder physikalische, einem neuen, interdisziplinär geprägten Konzept der Musikwissenschaft jenseits des klassischen Kanons zum Durchbruch verholfen.

Bei allem Fortschritt, bei aller thematischen und methodischen Ausdifferenzierung, die das Fachgebiet Jazzforschung seither begleitet, ist Jost dem Institut seiner Grazer Kollegen bis an sein Lebensende verbunden geblieben, so verbunden, dass er bestimmte, dass sein musikwissenschaftlicher Nachlass an der Kunstuniversität Graz aufbereitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Die Feier zur offiziellen Eröffnung des Archivs ist der formale Höhepunkt der 42. Arbeitstagung des Netzwerks „Radio Jazz Research“ zum Thema „Sozialgeschichte im Jazz. In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost“. Zusammen mit dem Fachbereich Jazzforschung an der Kunstuniversität Graz hat Radio Jazz Research ein Tagungsprogramm zusammengestellt, das die Feier zur Archiv-Eröffnung aus unterschiedlichen Perspektiven ins Visier nimmt. Im Zentrum die kämpferische Wissenschaftler- und Musiker-Persönlichkeit Ekkehard Jost und die Musik, die er zu seiner machte: der Free Jazz. Eher persönlich geprägt ist der Ausgangspunkt des Vortrags des Gießener Journalisten Hans-Jürgen Linke, der zum Auftakt die Wirkungsmacht von Josts Schaffen in Sachen Musik, Forschung und Kulturpolitik in Gießen nachsinnt, während André Döhring, ein früherer Student und Mitarbeiter von Jost in Gießen, der heute den Fachbereich Jazzforschung an der Kunstuniversität Graz leitet, bei seiner Analyse die Wirkmacht der Forscherpersönlichkeit Jost fokussiert. Aus philosophischer Perspektive diskutiert der Turiner Professor Alessandro Bertinetto den Begriff der ästhetischen Freiheit, den Jost in seiner Habilitationsschrift „Free Jazz“ mitentwickelt, Gerd Putschögl wendet Josts sozialhistorischen Blick auf aktuelle Tendenzen der Verbindung von Jazz und Flamenco an, Bernd Hoffmann richtet seinen Blick darauf, wie in den 1950-Jahren in außermusikalischen, journalistischen, musiktheoretischen oder fiktionalen Beiträgen zum Jazz-Diskurs in Text, Hörfunk oder Film anhand der Gegenüberstellung von Unterhaltungsfunktion und Kunstanspruch Mythologisierungen vollzogen werden. Klaus Frieler zeigt mit seinen Analysen neue Perspektiven der Jazzforschung auf.


42. Radio Jazz Research-Tagung in Graz
Sozialgeschichte im Jazz – In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost.

GRAZ, 9.-11. Juni 2022

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Moderation: Michael Rüsenberg

Hans-Jürgen Linke (Gießen)
Ekkus: Regionale Szene, internationaler Ruf: Ekkehard Jost in Gießen

André Doehring (Graz)
(Bei) Jost studieren: Von der Person über die Institutionen zur Fachgeschichte

Alessandro Bertinetto (Turin)
Free Jazz: Eine konkrete Form ästhetischer Freiheit

Gerhard Putschögl (Bad Rappenau)
Ekkehard Jost und die „Spanische Kultur“

Bernd Hoffmann (Köln)
Satchmo Ost – Satchmo West. Louis Armstrong, Begegnungen in deutschen Wochenschauen der 1950er und 1960er Jahre

Klaus Frieler (Frankfurt)
Jazz und Big Data: Was können uns Korpusstudien über den Jazz erzählen?

ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN

Hans-Jürgen Linke (Gießen):

Ekkus
Regionale Szene, internationaler Ruf: Ekkehard Jost in Gießen

Die erste und für lange Zeit einzige Free Jazz Formation im Mittelhessischen hieß Grumpff und wurde gegründet von Ekkehard Jost. Das geschah kurz nach Antritt seiner Musiksoziologie-Professur an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Ekkehard Jost hat die Stadt Gießen nie besonders gemocht und gehörte zu den Unruhegeistern am Institut, an das er über Jahrzehnte eine bestimmte Art von Musikern lockte. Als Lehrender, als Musiker und Publizist, als monothematisch agierender lokaler Kulturpolitiker, Mitbegründer der Jazzinitiative Gießen und der Jazzakademie Hessen und als privater Mensch war er in der Stadt und an der Universität der wohl zugkräftigste Kristallisationskern der regionalen Jazz-Szene. Immer wieder hat er mit seinen Studenten Bands gegründet. In den neunziger Jahren begann er sich in kleinen Schritten aus der lokalen Szene zurückzuziehen, hatte eine feste Bands fast ohne Gießener Musiker und markierte seine Ambitionen als Jazz-Komponist unter anderem mit zwei auch politisch grundierten größeren Projekten.

André Doehring (Graz): (Bei) Jost studieren. Von der Person über die Institutionen- zur Fachgeschichte

Der Vortrag „(Bei) Jost studieren.“ hat zwei Erkenntnisziele: Zum einen wird der Teil „Bei Jost studieren“, basierend auf eigener Erfahrung und objektiviert durch eine Curriculumsanalyse Gießener Studienordnungen, untersuchen, wie sich Sozialgeschichte bei Ekkehard Jost als Forschungs-, aber auch Lehrhaltung niederschlug. Zum anderen wird der Teil „Jost studieren“, basierend auf ersten Sichtungen des in Graz angesiedelten Jost-Archivs, die Josts Eingebundensein in strukturelle, musikalische und musikpolitische Zusammenhänge des Jazz zeigen, Möglichkeiten der künftigen fachgeschichtlichen Erforschung deutschsprachiger Jazzforschung erörtern.

Alessandro Bertinetto (Turin):
Free Jazz: Eine konkrete Form ästhetischer Freiheit

Der Ausdruck «Free Jazz», der auch der Titel des unvergesslichen Buches von Ekkehard Jost ist, unterstreicht die Rolle der Freiheit in der musikalischen Praxis. Die These, dass ich in meinem Vortrag untersuchen möchte, ist, dass dieser Ausdruck den paradigmatischen Charakter suggeriert, den Improvisation für die Kunst als solche hat. Um diese These zu argumentieren, möchte ich zunächst auf die Rolle des Freiheitsbegriffs in den ästhetischen Vorstellungen der wichtigsten Vertreter der “Klassischen Deutschen Philosophie” (Kant, Fichte, Schiller und Hegel) eingehen. Es soll gezeigt werden, dass die Kant’sche These vom «freien Spiel» der kognitiven Fähigkeiten, die Fichtesche Konzeption der ästhetischen Haltung als Übergang zur transzendentalen Standpunkt, die Schiller’sche Identifikation von ästhetischem Schein und Freiheit und das Hegelsche Argument, wonach die Kunst den Menschen von der Sinnlichkeit im Bereich der Sinnlichkeit selbst befreiet, alle Ausdrucken einer ästhetischen Orientierung sind, wonach nicht Imitation, sondern Kreativität der authentische Kern der Kunst ist. Ich werde diese Idee in Bezug auf improvisierte Musik aufgreifen. Dabei werde ich argumentieren, dass Improvisation – als künstlerische Auseinandersetzung mit Kontingenz – die konstitutive Rolle performativ darstellt, welche die ästhetische Freiheit fürs ästhetische Gelingen spielt.

Gerhard Putschögl (Bad Rappenau):
Ekkehard Jost und die „Spanische Kultur“

Insbesondere in seiner Komposition für Jazzorchester „Cantos de Libertad“ und in seinem Artikel „Flamenco Nuevo? Stilistische Tendenzen im Flamenco der Gegenwart“ zeigt Ekkehard Jost ein lebendiges Interesse an der Musik und Kultur Spaniens. Vor allem seine kritische Sichtweise zu einem verkommerzialisierten „Pop-Flamenco“ soll hier Ausgangspunkt meiner Betrachtungen werden, die insgesamt ein Resümee der zeitgenössischen Entwicklung des Flamenco-Jazz beinhalten und die Stilcharakteristika der wichtigsten Protagonisten beleuchten.

Bernd Hoffmann (Köln):
Satchmo Ost – Satchmo West. Louis Armstrong, ein Botschafter auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

Die Rezeption und Wertschätzung des Trompeters Louis Armstrong geht während den 1960er Jahren ganz unterschiedliche Wege in beiden deutschen Staaten. Einerseits symbolisiert Armstrong das Zentrum des traditionellen Jazzgeschehens in den USA. Er ist Orientierung für zahlreiche Jazzfans, vor allem in Europa, für Fans, die die modernen Spielarten des Jazz ignorieren. Andererseits faszinieren sein souveräner Umgang mit populären Musikformen wie seine Auftritte im westdeutschen Schlagerfilm. Zusätzlich verspricht seine Funktion als „Jazz Ambassador“ der USA ein reges Wechselspiel der Perspektiven – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.    

Klaus Frieler (Frankfurt):
Jazz und Big Data: Was können uns Korpusstudien über den Jazz erzählen?

Big Data hält auch in den Geisteswissenschaften unter dem Schlagwort der Digital Humanities verstärkt Einzug, das gilt auch für die Jazzforschung, wenn auch bisher in geringerem Umfang. Die Anwendung statistischer Methoden in einer traditionell hermeneutisch auf Einzelwerke und -künstler ausgerichteten Disziplin bleibt allerdings nicht ohne Widerstand. In diesem Beitrag soll anhand aktueller Beispiele versucht werden zu zeigen, dass Daten-orientierte Forschungsansätze nicht im Widerspruch zu herkömmlichen Methoden stehen, sondern – im Gegenteil – neue Sichtweisen auf Altbekanntes bieten können, die das Gesamtbild produktiv bereichern, ergänzen und erweitern. Zudem erlauben derlei Methoden neue Fragen aufzuwerfen, die ohne sie vielleicht nicht zufriedenstellend beantwortet werden könnten.


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