43. RJR Arbeitstagung in Lübeck | 08. – 10. September 2022

© Maximilian Busch

43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz

In Zusammenarbeit mit dem „Jazzpool Lübeck e.V.“ im Rahmen des Travejazz-Festivals.

Ein Resümee von Stefan Hentz

Nach „Identitäten“, Plural, fragte die 43. Arbeitstagung von Radio Jazz Research am 9. und 10. September in Lübeck, und schon in der Pluralbildung bildete sich die Fragilität statischer Konzepte von Identität ab. Wer auf den Begriff Identität zurückgreifen will, so scheint es, sollte eine Vielfalt von Identitäten oder Zuschreibungen voraussetzen, deren Nebeneinander erst die eine, von allen anderen unterscheidbare Identität eines Individuums beschreibt.

Mit seinen Überlegungen über Identitäten im Jazz, legte Michael Rüsenberg zur Einführung in die Tagung schon einmal eine funkensprühende Lunte an Konzepte, die mit dem Begriff der Identität versuchen, ästhetische Praktiken und Strategien im Jazz zu begründen. Im Anschluss an den Philosophen Wolfgang Welsch, der Identität trocken als die „singuläre Beziehung eines Gegenstandes zu sich selbst“ beschreibt, als ein „Amalgam aus Wahrheit und Dichtung, aus Realität und Wünschen“ und damit als eine „von Grund auf soziale Angelegenheit“, die man nicht aus sich selbst heraus entwickeln kann. „Wo immer man genauer nachforscht“, zeigt sich nach Welsch, „dass das, was angeblich rein national ist, in Wahrheit auf einem Mix internationaler und transnationaler Komponenten beruht“. Transkulturalität ist demnach „die Regel und die Realität“.

Dennoch, so zeigte sich im weiteren Verlauf der RJR-Tagung, lassen sich Aspekte der Beschreibung von Identität, lassen sich Gender, Ethnizität, Bildung, sozialer Status, und viele weitere, für die Beschreibung von realen Verhältnissen in dem sozialen Feld des Jazz mit Recht verwenden. Aus der Sicht eines Lehrenden, zu dessen Ethos es gehört, zu versuchen, allen seinen Studierenden gerecht zu werden, zäumte Andre Doehring, Leiter des Instituts für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz seinen Vortrag „’They say I’m different’: Identitäten im und für den Jazz erkennen, verstehen und fördern“, am Beispiel einer Studentin auf, die zwar eine sehr talentierte, ausdrucksstarke und ideenreiche Sängerin sei, aber von den verschiedenen Regelsystemen, die die Akzeptanz vor allem im Bereich Jazz regeln, von entsprechenden stilistischen Vorschriften und Verhaltenscodes immer wieder abgeschreckt wurde und sich stilistisch mittlerweile auf ihren Ausgangspunkt zurückbesonnen hat: auf den scheinbar so machohaften Hardrock. Das didaktische Ideal der Horizonterweiterung konnte so offenbar nicht realisiert werden.

In eine ähnliche Kerbe schlug auch die Ethnomusikologin und Musikwissenschaftlerin Christiane Gerischer, die bis vor kurzem in Potsdam als Präsidentin die Fachhochschule Clara Hoffbauer leitete, die in ihren Ausführungen über weibliche Drummer im Jazz, mit der verbreiteten Wahrnehmung aufräumte, dass sich deren Lage schon wesentlich verbessert habe. Im Gegenteil: rein zahlenmäßig waren Frauen in den 1940er-Jahren, als viele der männlichen Kollegen in den Kriegsdienst eingezogen waren, besser vertreten als heute. Doch noch heute werden Schlagzeugerinnen (und für andere Instrumentalistinnen gilt dies analog) häufig so inszeniert, dass sie primär als Frau, Blickfang und Sexualobjekt und erst in zweiter Linie als die kompetenten Musikerinnen wahrgenommen werden, die sie sind. Konkret belegte Gerischer mit Ausschnitten aus Interviews mit Schlagzeugerinnen und Perkussionistinnen der aktuellen Szene (Mareike Wiening, Sasha Berliner, Kalia Vandever), dass weder die Zeiten der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts vergangen sind, noch jene des plumpen Anbaggerns. Und dass Frauen, um für das was sie tun, anerkannt zu werden, darin noch immer wesentlich besser sein müssen als ihre männlichen Kollegen, Mitbewerber, Konkurrenten. Wovon die interviewten jungen Schlagzeugerinnen aber auch berichten, das sind Agenten der Selbstheilung in der Szene, bereits etablierte Musiker und Musikerinnen mit fest geknüpften Netzwerken, die jüngeren Kolleginnen, von deren musikalischer Qualität sie überzeugt sind, als Mentoren mit Rat und Tat (und Weiterempfehlungen) unterstützend zur Seite stehen.

Mit sehr persönlich angelegten Beiträgen verschoben zwei aktive Musiker den Fokus der Tagung ein großes Stück weiter in Richtung Konkretion. Im Gespräch mit Arne Schumacher berichtete die Saxofonistin Holly Schlott, die man bis 2018 als Volker Schlott beispielsweise aus dem Saxofonquartett Fun Horns kannte, von der Prozesshaftigkeit ihrer Geschlechtsangleichung, die sie nicht als einen Sprung zwischen zwei binären Zuständen, männlich/weiblich, versteht, sondern als eine Ausweitung ihres Rollenrepertoires, die sie heute mit großer Emphase als durchaus lustvoll und bereichernd beschreibt. Obwohl die Geschlechtsangleichung ohne Zweifel eine starke Veränderung der empfundenen Identität bewirkt, ist sie für Schlott nicht mit einer Abspaltung ihrer vorherigen Lebensgeschichte als Mann verbunden, entsprechend gelassen reagiert sie, wenn sie als „Volker“ angesprochen wird oder verwendet auf aktuellen CD-Veröffentlichungen beide Vornamen. Allerdings verschweigt die Saxofonistin keineswegs, dass sie sehr lange gezögert habe, bis sie erst an der Schwelle zur Beendigung ihres sechsten Lebensjahrzehnts ihr öffentliches Geschlecht an das schon sehr lange empfundene angeglichen habe. Und dass sie sich sehr gewundert habe, dass es in der Jazzszene, sehr wenig Reaktionen auf ihre Geschlechtsangleichung gegeben habe, weder negative noch positive, was sie selbst mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen habe. 

Fernab von den binären Schattenspielen um gender, race, class, etc, die so häufig die Debatten um Identitäten prägen, demonstrierte der Pianist Sebastian Sternal auf der instrumentaltechnischen Mikroebene, wie man als Musiker aus dem Studium seiner Vorbilder ein Vokabular von melodisch, harmonisch, rhythmischen Kurzformeln für den Zweck der Improvisation entwickeln kann, das sich einerseits direkt aus dem Strom der Jazztradition (oder potentiell auch jeder beliebigen anderen Tradition) speist, und andererseits durch die persönlichen Vorlieben gefiltert und damit höchst individuell ist. Den grundlegenden Stimmerwerb im Sinne des Erwerbs einer eigenen, unverwechselbaren (Instrumental-)Stimme als Musiker verlegt er damit in den Bereich einer sozusagen bewusst gesteuerten Entwicklung von kleinen und kleinsten musikalischen Sinnpartikeln, die man eher als Silben oder Phoneme verstehen könnte, denn als Worte, Sätze, Absätze.

So sehr im Verlauf der 43. RJR-Tagung deutlich wurde, dass vor allem das Identitätsmerkmal Gender im deutschen Jazz des Jahres 2022 noch immer von großer Bedeutung für die Zugangsregelungen ist, (andere Identitätsmerkmale wie Hautfarbe, Religion, Bildungsgrad, soziale Herkunft, etc. wurden – wenn überhaupt – nur en passant thematisiert), so deutlich wurde auch, dass mit der Thematisierung von identitätsbezogenen Diskriminierungen allein, kaum wesentliche Fortschritte in Sachen Chancengerechtigkeit und Niedrigschwelligkeit zu erzielen sind. Zwar könnten Quotenlösungen möglicherweise ein anderes, diverseres und damit auch inklusiveres Binnenklima in der Jazzszene befördern, doch um wirklich näher an den Idealzustand einer Farbenblindheit in Sachen Identitätsmerkmalen heranzurücken, wäre es notwendig, auf der Ebene des konkreten Handelns Vorgehensweisen wie beispielsweise Blind Auditions bei Besetzungsfragen zu entwickeln, die Vorurteile weitgehend ausschließen. Mit der enormen Spannung zwischen der philosophischen Ebene der Begriffsklärung, in der die Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung über Fragen der Identitäten selbst bisweilen ins Schwimmen geraten kann und der von Sternal vorgestellten praktischen Ebene, auf der die Selbstkonstruktion von Identitäten jede Transzendenz abstreift und sich als eine sehr kleinteilige Arbeit an den Details des eigenen musikalischen Vokabulars erweist.

43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz

In Zusammenarbeit mit dem „Jazzpool Lübeck e.V.“ im Rahmen des Travejazz-Festivals.

Wer bin ich? So einfach sie syntaktisch auch sein mag, ist die Frage nach dem, was jede Einzelne der Milliarden Menschen im Innersten ausmacht und sie von all den anderen unterscheidet, die Frage aller Fragen, diejenige, der sich jede und jeder zu stellen hat. Bin ich Mensch oder Cyborg, Tier oder Maschine? Mann oder Frau oder etwas ganz anderes? Alt oder jung, groß oder klein, rank oder dürr, stämmig oder etwas korpulenter? Ist meine Haut heller oder dunkler, mein Pass rot oder blau, grün oder gelb? Meine Religion mono oder poly oder vielleicht gar gänzlich agnostisch? Die Frage nach der Id-Entität, einer unabänderlich stabilen, an essentielle Eigenheiten gebundenen Grundlage einer Persönlichkeit, hat derzeit Konjunktur. Ist gleichermaßen Ansatzpunkt für politisch motivierte Ausschlüsse nach sozialen, genderpolitischen, rassistischen Kriterien, wie für die politische Kritik an solchen Ausschlussmechanismen.

Dabei ist unstrittig, dass das soziale und wirtschaftliche, spirituelle und kulturelle Umfeld, in dem man aufwächst, dass Klima, Ethnizität, Geschlecht, Sprache und noch viele weitere Faktoren Spuren und Narben in jedem und jeder einzelnen hinterlassen, tiefe Spuren, die sich bis in körperliche Codes einschreiben können. Und dass sich im hyperkomplexen Zusammenspiel einer infiniten Anzahl determinierender Faktoren möglicherweise so etwas wie ein mentaler Fingerabdruck der Persönlichkeit darstellen lässt.

Gerade im Jazz, der seine Entstehung einem kulturellen Verschmelzungsprozess verdankt, der die (von der Gewalt der Sklaverei und einem enormen Machtgefälle geprägte) Begegnung von Migrantengruppen aus Europa und Afrika auf amerikanischem Boden in eine neue, hybride musikalische Form übersetzte, in der Elemente musikalischer Praktiken aus den verschiedenen Herkunfts-Kulturkreisen legiert sind, hat die Frage nach der Identität jeder einzelnen Musikerin, nach ihrer unverwechselbaren, einzigartigen Stimme, ein sehr hohes Gewicht.

Zugleich stellt sich eine weiterführende Frage: Ist der Singular für die Frage nach der Identität einer Person die angemessene Dimension? Müsste man in den zunehmend komplexer gewordenen Gesellschaften, die jeden einzelnen mit zunehmend komplexeren Rollenanforderungen und Interaktionen weit über die Grenzen der eigenen Sozialisation hinaus konfrontiert, nicht das Konzept der Identität zumindest in den Plural erweitern: IDENTITÄTEN?

In seiner 43. Arbeitstagung umkreist Radio Jazz Research das Thema Identität in verschiedenen Radien. Die Palette reicht dabei von dem Thema Nachwuchsförderung über Fragen Geschlechterdisparität und nach dem Ausschlussfaktor Queerness, bis hin zu allgemeineren Diskussionen des Begriffs Identität und seiner Ausweitung im Anschluss an das Konzept der Transkulturalität, den der Philosoph Wolfgang Welsch zur Debatte stellte. Eine besondere Rolle spielt schließlich der Pianist Sebastian Sternal mit seinem Versuch, am Flügel ganz praktisch die Komplexität seiner Arbeit an einer Bestimmung einer Identität zu demonstrieren.

Text: © Stefan Hentz, Juni 2022
Bild: © Maximilian Busch, September 2022


43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz
8.-10. September 2022

PROGRAMM:
Programm: Bernd Hoffmann/Peter Ortmann
Moderation: Michael Rüsenberg

9. September:

ORT: Europäisches Hansemuseum, Lübeck (An der Untertrave 1):

9.30 Begrüßung: Stadtpräsident der Hansestadt Lübeck Klaus Puschaddel, Kultursenatorin Monika Frank, Jazzpool Lübeck Sven Klammer, Vorstand RJR Dr. Bernd Hoffmann

10.00 Michael Rüsenberg:
Identität? – Transkulturalität!
Ein paar philosophische Gedanken, eingesammelt bei Wolfgang Welsch

11.00 André Doehring:
„They say I’m different“: Identitäten im und für den Jazz erkennen, verstehen und fördern

12.00 Christiane Gerischer: 
Die Bedeutung des Mentoring für Frauen im Jazz am Beispiel von Schlagzeugerinnen

15.00 Holly Schlott, Saxofonistin/Komponistin aus Berlin, im Gespräch mit Arne Schumacher

16.00 Arvid Maltzahn / Peter Ortmann:
Jazz-Nachwuchs-Förderung am Beispiel von Jugendjazzorchestern und Jugend-jazzt-Wettbewerben

17.30 RJR-Mitgliederversammlung

10. September:
ORTE: Musikschule Lübeck / Europäisches Hansemuseum, Lübeck:

9.30 Sebastian Sternal (Musikschule):
«Do I have a voice?“ Die Suche nach der eigenen Stimme – Personalstile im Jazz

11.00 Oliver Weindling:
Political Identity in Jazz. A curse or a blessing?

12.00 Zur Abbildungen von Identitäten.
Round Table mit Andreas Felber, Lena Jeckel, Urs Johnen.
Moderation: Arne Schumacher

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