Fortschritte – Rückschritte. Perspektiven im deutschen Jazz

Ein Text von Stefan Hentz

Der Fortschritt, sagt man, ist eine Schnecke. Oder vielmehr: ein Krebs. Die Vorstellung zumindest, dass sich die Dinge, die Kunst, Musik, die sozialen und zivilisatorischen Verhältnisse- langsam zwar – nach vorne zum Besseren bewege und immer weiter nach vorne, lässt sich schon lange nicht mehr halten. Der Fortschritt weicht aus, links, rechts, oder geht rasch ein, zwei Schritte zurück, bevor dann wieder einige Schritte voran folgen. Und was in vielen Fragen und Bereichen und im Allgemeinen zu gelten scheint, das gilt auch im Jazz. Da mag man sich im einen Moment über Erreichtes freuen, über plötzliche Akzeptanz, unverhofften Förderungswillen privater oder öffentlicher Hände, echte oder auch nur angetäuschte Sympathiebekundungen von Machtmenschen oder wichtigen Influencern, neue oder zumindest neu strukturierte Auftritts- oder Publikationsorte und/oder -medien und längst abgeschriebene Publikumsströme – im nächsten Moment scheint alles wieder dahin oder schlimmer. Das reale Leben ist verwirrend und ungleichzeitig – auch im Jazz.

Unscheinbare Fort- und scheinbare Rückschritte kennzeichnen in den vergangenen Jahren auch die Entwicklungstendenzen des Jazz in Deutschland. Der Echo Jazz gibt dem Jazz für einen Lidschlag eine ungewohnte Prominenz in der Öffentlichkeit des Fernsehens, wird jedoch von vielen Musikern in der bisherigen Form eher als eine unangenehm paternalistische Form der Zuwendung angesehen, bevormundend und an der präsentierten Musik nicht wirklich interessiert. Doch die widersprüchlichen Bedürfnisse, die in den erregten Debatten über diese Selbstfeier einer Nische der Musikwirtschaft zum Ausdruck drängen, führen nicht zu einer ernsthaften Selbstverständigung über die noch in der Nische ungebrochenen Rollenverteilungen zwischen Männer und Frauen, David und Goliath, zwischen Musikern, Labels und der großen Medienmaschine mit der audiovisuellen Wasserverdrängung, zwischen purem Existenzminimum, prekären Labelexistenzen und den vergoldeten Fassaden der eingebildeten Glamourfabriken. Stattdessen endet die Diskussion als Gegenstand einer wiederum fehlerhaft recherchierten, skandalisierenden Berichterstattung in anderen Medien, TV, Print oder online: Fortschritt? Rückschritt?

Oder wie ist es einzuschätzen, wenn eine in langen Zeiträumen entstandene Förderstruktur in einer Region plötzlich durch unverhoffte Förderungen an einer Stelle in ein neues Gleichgewicht streben, wenn Leuchtturmprojekte entstehen (Köln) oder angestrebt sind, (Berlin)? Welche Folgen haben solche Projekte, die die Wahrnehmung des Jazz zwangsläufig hierarchisieren, für die auf See navigierenden Musikschiffe und für die angrenzenden Küstenstreifen mit ihren bestehenden Clubs und Szene-Institutionen? Wirken sie befruchtend für alle, weil sie helfen veranstalterische Cluster mit den entsprechenden Gravitationskräften zu bilden? Oder strahlen sie so hell, dass alle anderen in Gefahr geraten, überstrahlt zu werden und nicht mehr wahrnehmbar zu sein.

In Deutschland gibt es knapp zwanzig Musikhochschulen, die einen Jazzstudiengang anbieten. Ohne jeden Zweifel ist dies ein Fortschritt. Zugleich ähneln sich diese Studiengänge in ihren jazzpädagogischen Schwerpunktsetzungen und befördern somit eine gewisse Konformität, die möglicherweise die postulierten Ausbildungsziele wieder konterkariert. Auch hier ließe sich beobachten, dass Fortschritt leicht in Rückschritt umschlagen kann.

In der Gesprächsrunde „Fortschritte – Rückschritte – Perspektiven des deutschen Jazz“ bringt Arne Schumacher drei Protagonistinnen der aktuellen deutschen Jazzszene ins Gespräch, die in Hamburg und Köln ausgebildete Bassistin und Komponistin Hendrika Entzian, die Produzentin Stefanie Marcus von dem erfolgreichen Berliner Label „Traumton“ sowie Lena Jeckel, künstlerische Leiterin des Bunker Ulmenwall in Bielefeld.