33. Radio Jazz Research-Tagung
Tagungsort: Haus Humboldtstein Remagen
Der Tagungsbericht von Stefan Hentz:
„Wildcard“ – so sehr es eine schwierige Übung sein kann, die groben Gesprächslinien einer Tagung ohne vorgegebenes thematisches Zentrum nachzuverfolgen, so selbstverständlich ergaben sich bei „Wildcard“, der 33. Tagung von Radio Jazz Research am 5./6. April 2018 in Remagen-Rolandseck diskursive Schnittpunkte, die das Tagungsgespräch immer wieder strukturierten: Einer dieser Schnittpunkte war die Verbindung zwischen bestimmten Regionen und lokal vorherrschenden Spielarten von Jazz oder Jazzverwandtem. Städte sind die Orte, an denen sich die Entwicklung des Jazz abspielt, nur in Städten, größeren und kleineren und jedenfalls konkreten Städten, kann die kritische Masse an Talent, Ideen, Wagemut und Geschäftssinn entstehen, nur in Städten sind die Voraussetzungen gegeben für die eruptiven Begegnungen und Verschmelzungsprozesse, die dem Jazz bis in die Gegenwart seine lokalen Spielarten oder markanten Entwicklungssprünge bescherten. Während Andreas Eichhorn untersuchte, wie Leonard Bernstein als Komponist von Musicals wie „On the Town“ (1944) „Wonderful Town“ (1953), und der „West Side Story“ (1957) immer wieder versuchte, den Klang jener neuen Musik, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem auf den Tanzböden und in den eher afroamerikanisch geprägten Bezirken von New York zunehmend Aufsehen erregte, auf den weitaus populäreren Bühnen der Broadway-Theater zusätzliche Popularität zukommen zu lassen, griff Oliver Weindling mit seiner Vorführung eines Interviewfilms über die Geschichte der ersten Inkarnation von „Ronnie Scott’s Jazz Club“, des wohl bedeutendsten und dauerhaftesten Jazzclubs von London, den er mit Unterstützung von Leo Hoffmann im vergangenen Jahr mit John Jack, einem kürzlich gestorbenen Urgestein der Londoner Jazzszene und über mehr als fünf Jahrzehnte unermüdlichen Zeitzeugen realisiert hatte, in den Werkzeugkasten der klasssischen Oral History. Zugleich dokumentierte dieser Film in schöner Klarheit, wie auch dem Medium Dokumentarfilm Darstellungsgrenzen innewohnen, die bei aller Einfühlung und Ernsthaftigkeit seinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit relativieren.
Später schweifte der Fokus der Tagung in Gerhard Putschögls Erörterung von aktuellen Ansätzen zur Verschmelzung von Jazz und Flamenco im Geiste von „Dzuende“ und 12/8-Takts in die andalusische Metropole Sevilla, und Klaus Näumann stieß in der Reggae-Szene von Minsk, der Hauptstadt der Republik Belarus, auf genau jenen subkulturellen Widerstandsgeist und den Willen zur Subversion vorherrschender ästhetischer Ausdrucksformen, die dem Jazz so häufig zugeschrieben werden.
Ein zweiter thematischer Strang der RJR-Tagung wand sich um das Verhältnis von Jazz zu den Medien, in denen er an die Öffentlichkeit tritt: Willem Strank untersuchte die funktionalen Felder zwischen historisierendem Re-Enactment und kreativer Neukalibrierung, die jazzgemäß improvisierte Musik im Verlauf der Filmgeschichte als musikalisches Begleitmaterial zu Stummfilmen öffnet, während Bernd Hoffmann in seinen Betrachtungen über die SWF-TV-Sendereihe „Jazz gehört und gesehen“ nachverfolgt, wie sich gegen Ende der 1950er-Jahre das Verhältnis zwischen „professionellen“ Jazzmusikern und den in der Nachkriegszeit zunächst hochgeschätzten, engagierten „Amateuren“ in Richtung einer – von Seiten der „Profis“ erbittert geführten – Auseinandersetzung um den Zugang zu den raren Fördertöpfen verschob, während umgekehrt die publizistischen Unterstützer eines als „authentisch“ verklärten Amateurismus in ihrer Verdammung der Professionalisierung des Jazz und der damit verbundenen stilistischen Fortentwicklung nicht mit rassistischen Klischees sparten.
Höhepunkt der Tagung, in dem auf zauberhafte Art und Weise, die verschiedenen Fäden zueinander fanden, war schließlich das Podiumsgespräch zum Thema „Fortschritte – Rückschritte. Perspektiven im deutschen Jazz“, in dem Arne Schumacher als Moderator den Stand der Dinge in Sachen Jazz in Deutschland in den sehr unterschiedlichen Perspektiven der Bassistin und Komponistin Hendrika Entzian, von Stefanie Marcus, die seit mehr als fünfundzwanzig Jahren das wagemutige Berliner Label „Traumton“ betreibt und von Lena Jeckel, der künstlerischen Leiterin des Bielefelder Clubs Bunker Ulmenwall, dreidimensional auffächerte. Allein das Geflecht der Berührungspunkte zwischen Labelchefin, einer der vielen von ihr vertretenen Musikerinnen und der Bookerin eines der renommiertesten Jazzclubs in Deutschland, die wiederum viele der KünstlerInnen des Traumton-Labels und auch die Bassistin Hendrika Entzian gerne und häufig engagiert ist ein Zeichen für die fortschreitende Vernetzung in der Szene, die nach der Wirkungsweise kurzer Kommunikationswege Zusammenarbeiten ermöglichen kann, die so vielleicht einige Jahrzehnte zuvor noch nicht denkbar gewesen wären. Dabei verwahrten sich die drei Frauen auf dem Podium (vielleicht etwas vorschnell, aus der Position derjenigen, für die ihr Geschlecht in diesem Business nie ein Hindernis dargestellt habe) dagegen, den Umstand, dass hier drei Frauen nebeneinander auf dem Podium saßen, in eine Quotendiskussion umzumünzen. So wollen sie nicht wahrgenommen werden, wer würde das auch wollen. Unisono begrüßten sie dagegen das Entstehen neuer Förderwege für den Jazz, seine ProtagonistInnen und die OrganisatorInnen im Vor- und Umfeld. Allerdings, so unterstrich die Bielefelder Clubleiterin Lena Jeckel, seien neue Förderideen sehr häufig einseitig auf die urbanen Zentren gezielt, auf Berlin beispielsweise oder – für ihren Arbeitsbereich entscheidender – auf Köln. Und so sehr sie auch das Engagement der nachwachsenden Musikergenerationen aus Köln im Bereich der Session-Arbeit des Bunker begrüßt, dort also, wo Musiker nichts verdienen und Clubs nur draufzahlen, muss sie doch beklagen, dass die vergrößerten Fördertöpfe für die überregional zielenden Veranstaltungsangebote keinen Trickle-Down-Effekt für die regionale Basisarbeit erzeugen. In Bielefeld und all den anderen kleineren, urbanen Zentren, so lässt sich schlussfolgern, hat sich offenbar nichts gebessert. Es bleibt noch viel zu tun.
Das Tagungsprogramm:
Donnerstag, 05.04.2018: 15.00 Uhr – 20.00 Uhr
15:00 Uhr Begrüßung
15:15 Uhr Willem Strank:
Die Rolle des Jazz bei der Vertonung von Stummfilmen
Der Vortrag befasst sich mit der ad-hoc-Begleitung von Stummfilmen, der
tatsächlichen Performance-Situation eines Stummfilm-Pianisten im
Gegensatz zum Vertonungsprozess für Speichermedien. Nach einigen kurzen
allgemeinen Anmerkungen zur Begleitung von Stummfilmen in ihrer
klassischen Praxis (1895-1930) und zur Rolle des Jazz im Repertoire
dieser Zeit geht es vor allem um die zeitgenössische Praxis der
Stummfilmbegleitung und den Stellenwert, den Jazz bzw. jazz-artige
Spieltechniken dabei einnimmt bzw. einnehmen können. Dies geschieht aus
der Perspektive eines Stummfilmbegleiters, es geht also um den Prozess
der Lösung von ‚Problemen‘, die das filmische Material präsentiert und
wie diesen begegnet werden kann.
15:45 Uhr Diskussion
16:00 Uhr Pause
16:15 Uhr Andreas Eichhorn:
New York – Facetten bei Leonard Bernstein. Ein musikalischer Streifzug
Leonard Bernstein, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum hundertsten Male jährt, war zeitlebens mit der Stadt New York eng verbunden. Er hat sie nicht nur als Schauplatz dreier Broadway-Shows gewählt, die auch seine erfolgreichsten waren, sondern auch in anderen Werken thematisiert. Das von Bernstein entworfene New York-Bild ist musikalisch so facettenreich wie die Stadt selbst. Seine ambitionierte Musik, die die Musical-Komposition auf ein neues Niveau hob, zeichnet sich durch große Vielfalt hinsichtlich der Genres, Stile und Formen aus und ist vor allem deswegen so lebendig, weil es Bernstein gelungen ist, sie zum identifikatorischen Ausdruck eines Lebensgefühls zu machen (Giselher Schubert).
16:45 Uhr Diskussion
17:00 Uhr Arne Schumacher im Gespräch mit Stefanie Marcus, Lena Jeckel und Hendrika Entzian:
Fortschritte – Rückschritte. Perspektiven im deutschen Jazz
Der Fortschritt, sagt man, ist eine Schnecke. Oder vielmehr: ein Krebs. Die Vorstellung zumindest, dass sich die Dinge, die Kunst, Musik, die sozialen und zivilisatorischen Verhältnisse- langsam zwar – nach vorne zum Besseren bewege und immer weiter nach vorne, lässt sich schon lange nicht mehr halten. Der Fortschritt weicht aus, links, rechts, oder geht rasch ein, zwei Schritte zurück, bevor dann wieder einige Schritte voran folgen. Und was in vielen Fragen und Bereichen und im Allgemeinen zu gelten scheint, das gilt auch im Jazz. –> Weiterlesen
17:30 Uhr Diskussion
18:00 Uhr Abendessen
20:00 Uhr Mitgliederversammlung
20:30 Uhr Kurzfilm „John Jack – ‹I improvised’“:
This is a short film by Oliver Weindling, put together with Leo Hoffmann, based on an extensive interview with John Jack, made with him in August 2017, just before he died at the age of 83. John Jack was a ‹Zelig› of the London jazz scene, starting around Soho from the 1950s onwards, especially managing Ronnie Scott’s Old Place, where he encouraged the new developments in the mid 1960s, with the likes of Mike Westbrook, John Surman, and the arrival of the Blue Notes from South Africa. He then started Cadillac Records, which distributed music ranging from dixieland through to Evan Parker and working closely with Hazel Miller of Ogun Records.
Freitag, 06.04.2018: 10.00 Uhr – 13.00 Uhr
09:30 Uhr Gerhard Putschögl:
Zeitgenössische Stilentwicklungen: Jazz & Flamenco – Fusión
Das Zusammenwirken von Elementen des Jazz und der Flamencotradition brachte im Spanien der letzten 40 Jahre neue unverwechselbare Stilkreationen hervor. In diesem Vortrag werden sowohl die Entstehungszusammenhänge dieser unter dem Terminus «Flamenco Jazz» subsumierten Stilformen wie auch kennzeichnende musikalische Merkmale derselben dargelegt. Dies geschieht im Wesentlichen anhand von beispielhaften Aufnahmen stilbildender Protagonisten.
10:00 Uhr Diskussion
10:15 Uhr Pause
10:30 Uhr Bernd Hoffmann:
Der Amateur – Anmerkungen zur SWF-TV-Sendereihe „Jazz gehört und gesehen“
Die stark anwachsende mediale Präsentation des Jazz bestimmt die westdeutsche Geschichte dieser Musik während den 1950er Jahren: Immer neue Hörfunkreihen entstehen an öffentlich rechtlichen Rundfunkstationen (ARD), 1955 folgt dann die erste Sendereihe im Fernsehen, produziert vom Südwestfunk Baden-Baden. Ihr Moderator (und Produzent) ist der Hörfunk-Jazzredakteur Joachim Ernst Berendt. Mehrere Sendungen werden pro Jahr ausgestrahlt, bis 1974 werden es 85 Folgen sein.
Die Abbildung der westdeutschen Amateur-Jazz-Szene wird in sieben Folgen (1956-61) dieser Sendereihe thematisiert, sie portraitiert und veranschaulicht eine Laienmusik-Bewegung, die gegen Ende des Jahrzehnts geschätzte 50.000 Mitglieder in der Bundesrepublik zählt. Ausgangspunkt jeder Ausgabe ist das jährlich stattfindende Deutsche Amateur Jazz Festival in Düsseldorf, das die besten Amateur-Jazzer in den Kategorien Traditional und Modern sucht. Nach den Konzerten in Düsseldorf werden die dort ermittelten Gewinner in Studiokonzerten des Fernsehen in speziellen Besetzungen dokumentiert.
Diese Sendereihe bietet verschiedene Aspekte: Sie zeigt erste visuelle Konzepte „Jazz“ im westdeutschen Fernsehen zu „sehen“ (und zu „hören“). Sie präsentiert den Amateur in einer aufwendigen Filmsprache und interpretiert – als gesellschaftliche Aufwertungsstrategie – diesen Laienmusik-Gedanken in Richtung einer neuen Ernsten Musik.
11:00 Uhr Diskussion
11:15 Uhr Klaus Näumann:
A case of glocalization: Reggae in Belarus
Since the 1950s in countries of Eastern Europe (belonging to the Warsaw Pact) there exists (Western) popular music. Whereas in the beginning it was limited mostly to imitations of Western idols (Beatles, Elvis Presley, Bill Haley) in the 1970s and especially the 1980s specific versions of pop, rock and punk music developed, which more and more included local languages containing lyrics with strong connections to country-specific contexts. After the end of the Warsaw Pact (1989-1992) additional idioms of international popular music were taken up by Eastern European bands. One particular favorite style is reggae music. Besides various eastern European countries (Russia, Poland etc.) reggae music is played also by Belarusian bands that perform their songs either in the Russian or in the Belarusian language. The focus of my presentation is on the growing importance of reggae music in Eastern Europe in general and in Belarus in particular. This will be done by presenting certain bands, their songs, lyrics and the adaptation or glocalization of reggae music and Rastafarian ideas to «Belarusian life», which of course differs in many respects from Jamaica.
11:45 Uhr Diskussion
12:30 Uhr Mittagessen