19. Arbeitstagung in Burghausen | 15. bis 17. März 2012

19. Arbeitstagung, 15. bis 17. März 2012 in Burghausen

Wild Card – Themenoffene Tagung

Während oben auf Europas längster Burganlage die ARD die Lügengeschichten des Barons von Münchhausen dreht, begeben sich in ihrem Schatten wackere Gesellen auf die Suche nach jazzmusikalischen Wahrheiten. Recherchen über ein kulturell ungeliebtes Kind in einem ehemaligen Waisenhaus, das heute den freundlicheren Namen „Haus der Begegnung“ trägt…

Das Tagungsprogramm

Donnerstag, 15. März, 15.00 Uhr – 18.00 Uhr

  • Hans-Jürgen Linke Nach Berlin! Zur regierungsoffiziellen Musikförderung in Deutschland
  • Ekkehard Jost Die Musikwissenschaft und der Jazz – Anmerkungen zum jazzbezogenenen musikologischen Lehrangebot an deutschsprachigen Universitäten und Musikhochschulen
  • Pierre Alexandre Tremblay Splice: Blurred boundaries in Post-Free-Jazz practice

Freitag, 16. März, 10.00 Uhr – 16.00 Uhr

  • Max Hendler Slave Songs of the United States 1867
  • Oliver Weindling Zur aktuellen Situation der improvisierten Musik in Frankreich
  • Franz Krieger Interaktion mit dem Jazzpublikum – eine audiovisuelle Spurensuche
  • Herbert Uhlir im Gespräch mit Johannes Kunz (Salzburger Jazzherbst

Zusammenfassungen der Vorträge von Hans-Jürgen Linke und Pierre Alexandre Tremblay siehe unten

Während die Teilnehmerzahl bei radiojazzresearch langsam aber stetig wächst, nimmt – so müssen wir den Worten Ekkehards Josts entnehmen – die Präsenz des Jazz im akademischen Umfeld der Musikwissenschaft, die „weiterhin größte Zurückhaltung“ ausübt, eher ab als zu: War Jazz als Forschungsgegenstand um 1960 „nicht existent“, genoss er ab 1973 in Giessen eine ungeahnte, wenn auch vorübergehende Blüte und fristet heute bundesweit allenfalls ein Schattendasein.

Über allzu geballte Präsenz US-amerikanischer Musiker in einem Pariser Club, eine daraus resultierende „musicians’ attack“ gallischer Improvisatoren und einen „new sense of a jazz community“ berichtete Oliver Weindling. Der hörende Blick über den Tellerrand germanischer Improvisationskultur hinaus ist – in erfreulicher Parallelität zur wachsenden Internationalität der Mitglieder – längst Alltag bei RJR. Im an der Grenze zu Österreich gelegenen Burghausen lag ein Exkurs in Austrias Jazzlandschaft besonders nah: In einem Gespräch Herbert Uhlirs mit Salzburger Jazzherbst-Leiter Johannes Kunz erfuhr die erlauchte Runde von einem mit einer Millionen Euro Etat gesegneten Festival, bei dem „große Sachen sich rechnen müssen und das Sponsoring in die Finanzierung der kleinen“ geht.

Die leidige Ökonomie – für eine dauerhaft darbende Minderheitenkultur ein Dauerthema – bestimmte den Vortrag von Hans-Jürgen Linke: Seine Analyse der regierungsoffiziellen Musikförderung in Deutschland konstatierte deutliche Defizite, eine allgemeine Berlin-Lastigkeit und eine lahmende Exportbereitschaft, die dieses in anderen Bereichen so exportfreudige Land nicht unbedingt für den Reigen führender europäischer Kulturnationen qualifiziert.
Einblicke in konkrete musikalische Praxis lieferten zwei Beträge: Der kanadische Wahl-Engländer Pierre Alexandre Tremblay präsentierte sich als Repräsentant der „digital natives“ – einer Generation, für die der Computer so selbstverständlich ist wie für einen Bayern das Weißbier, mit polyperspektivischer „we don’t care“-Attitüde, frei von jeglichen Grenzziehungen und der gefühlten Verpflichtung, irgendeinem historischem Erbe gerecht werden zu müssen, daheim in einer Grauzone, in der sich alles mischt und alles erlaubt ist.

Franz Krieger untersuchte das weite Feld der Interaktion von Musikern mit ihrem Publikum, Animationstechniken und Praktiken der Emotionalisierung, Strategien des Einbeziehens, des Suggerierens von Spontaneität bis hin zum Mittel des inszenierten, wohl kalkulierten Humors. All dies ließ sich beim abendlichen Konzertbesuch in der Wackerhalle verifizieren, gekrönt von den Bemühungen, die gewonnenen Erkenntnisse in den Tiefen und Untiefen eines Jazzkellers zu vertiefen.
Maximilian Hendler tauchte tief in die jazzmusikalische Frühgeschichte und die ihr vorausgehende Praehistorie ein: graue Vorzeiten, die aus seiner Forschungssicht kaum schwarz denn eher weiß geprägt sind – kulminierend in der Aussage, allenfalls der Verve komme aus Afrika, das Material hingegen nicht.

Das Bemühen von RJR, aktuelle Phänomenen als auch die Historie des Jazz aufzuarbeiten, findet ihre Analogie im zweigeteilten Stadtbild Burghausen: unten die Geschichte atmende barocke Altstadt, die ein Vorgänger Sarkozys, Napoleon, mit dem Ausruf „voila, la ville souterraine!“ unsterblich machte -, oben die Neustadt, die ästhetisch zu würdigen bislang noch niemandem gelungen ist. Eine Taxifahrerin, die angesichts der geballten Präsenz von Schauspielern, Jazz- und Fußballfans während der Jazzwoche rastlos zwischen Burghausens Ober- und Unterwelt pendelte, konnte ihr Glück kaum fassen: „D’Sunn hot schin, Wacker hot gwunna und do hot’s no so an Tschääs gem!“

Karsten Mützelfeldt

Hans-Jürgen Linke Nach Berlin! Zur regierungsoffiziellen Musikförderung in Deutschland

Natürlich muss Kultur im Allgemeinen und der Jazz im Besonderen gefördert werden. Das geschieht auch überall in Deutschland, durch Kommunen, Länder und den Bund. Nur scheint niemand mit den Quantitäten und Qualitäten des Förderns wirklich zufrieden zu sein. Abgeordnete aus der Bundestagsfraktion der SPD haben sich mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung gewandt, um zu erfahren, was gefördert wird und nach welchen Kriterien die Fördermittel vergeben und kanalisiert werden. Die Antwort in der Bundestagsdrucksache 17/7222 gibt den Blick frei auf gar nicht mal ganz knauserige, aber bestürzend planlose Verhältnisse: Für die Förderung gibt es keine verbindlichen Kriterien außer einer „gesamtstaatlichen Relevanz“, die mit dem, was gefördert wird, wenig zu tun hat. Die Fördermaßnahmen sind unkoordiniert in verschiedenen Ministerien verankert (Kultur und Medien, Wirtschaft und Technologie, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Verteidigung, Auswärtiges Amt). Die Initiativen und Körperschaften, die die Fördermittel verteilen, verfolgen oft eigene Interessenkonstellationen und Konzepte. Ein nicht ganz kleiner Teil der Mittel ist in institutionellen Förderungen oder durch vertragliche Regelungen fast unverrückbar gebunden. Die meisten davon sind in der Hauptstadt angesiedelt, in die 37 Prozent der für Musik zur Verfügung stehenden Bundesfördermittel fließen.

Pierre Alexandre Tremblay Splice: Blurred boundaries in Post-Free-Jazz practice

Since the death of the Fidelity Myth of the recording age, and with the super-power of portable computers, the line between real-time and differed-time has blured: the studio has become a full-fledged composition instrument, and the stage an electroacoustic lab. Add to this portable random access to hundreds of years of musics of all styles, and we get a new generation of composers completely ignore boundaries, or deliberately blurs them. To illustrate this in practice, post-free-jazz quartet Splice’s approach will be dissected.