29. Arbeitstagung in Kiel | 31. März bis 01. April 2016

29. Arbeitstagung, 31. März bis 01. April 2016 in Kiel

Zwei Welten, mindestens, prallten bei der 29. RJR Arbeitstagung zum Thema „Jazz und Film“ am 31. März/01. April 2016 im Internationalen Begegnungszentrum in Kiel aufeinander: auf der einen Seite die Welt der Filmwissenschaftler mit ihrem ausgearbeiteten Begriffsapparat im Werkzeugkasten und einem Koffer voller visueller Erinnerungen im Gepäck. Und auf der anderen Seite diejenige der anwesenden Jazzjournalisten, die im Umgang mit Filmen dazu neigen, Fragen der visuellen Repräsentation zu ignorieren, das Maßband historischer Richtigkeit anlegen und schnell auf die Ebene von Geschmack und persönlicher Bewertung einzuschwenken. In diesem Licht entwickelte diese Tagung einen hochspannenden „Clash of Civilizations“.

Im Eingangsreferat „Jazz und Film – ein weites Feld“ fächerte der Wiener Filmwissenschaftler Claus Tieber die Berührungen und Überschneidungen der beiden im vergangenen Jahrhundert nahezu parallel entstandenen Kunstformen Film und Jazz anhand ihres Verhältnisses zu Themenfeldern wie Improvisation, Körper, Individuum und Kollektiv, Performance und Star Image, Räume und Beyond Representation auf. Als Filmwissenschaftler rückte er dabei die „filmischen Vorstellungen, Ansichten, Topoi und Narrative“ in den Blickpunkt, „welche Film bzw. audiovisuelle Medien in den Diskurs über Jazz einfließen lassen“, womit sie wiederum „das allgemeine Bild von Jazz mit definieren.“

Tiebers allgemein formulierten Ansatz wendete der gastgebende Filmwissenschaftler Willem Strank vom „Forschungszentrum Film und Musik als multimedialer Raum“ an der Christian Albrecht Universität, Kiel in seiner Untersuchung von Charlotte Zwerins Dokumentarfilm „Straight no Chaser“ über den Pianisten Thelonious Monk aus dem Jahr 1988, ins Konkrete. Anlass für diesen Film, so Strank, war „die Kompilation von unverhofft aufgetauchtem Filmmaterial über Thelonious Monk – ein abgebrochener Dokumentarfilm, der aus Backstage-Material, Aufnahmen im Privatraum, Studio- und Konzertaufnahmen besteht und von der Filmemacherin um biographische Montagen, inszenierte bzw. initiierte Performances von Monk-Kompostionen sowie Zeitzeugenberichte in Interviewform ergänzt wurde.“

Gerade im direkten Gegenüber der verschiedenen Anteile des Filmes, die durch die Verwendung unterschiedlichen Filmmaterials – schwarzweiß für die ursprüngliche Dokumentation der Aufnahmearbeiten beispielsweise von Monks Album „Underground“ aus dem Jahr 1968 und in den später, nach Monks Tod im Jahr 1982 entstandenen Anteilen in Farbe – schon an der Oberfläche deutlich abgesetzt sind, präpariert Strank die verschiedenen damit verbundenen Aussagestrategien hervor: während das wiedergefundene Material in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Direct Cinema seiner Entstehungsperiode sich sehr nah und ergebnisoffen an den zu filmenden Gegenstand heranpirscht, entspricht der später entstandene Narrationsrahmen mit seinen biographischen und kontextualisierenden Elementen, mit Interviewpartnern und Zeitzeugen den Konventionen, die Hollywood für den Bereich des künstlerischen Biopic entwickelt hat. Ein analoger Prozess der Nutzbarmachung von disparatem Material vollzieht sich auf der Ebene der eingesetzten Musik – zu einem weiten Teil Solo-Aufnahmen des Pianisten, die ihn von seiner sperrigen, ins Abstrakte weisenden Seite präsentieren vs. softere, zugänglichere Versionen von Monk-Kompositionen ohne weitere gestalterische Mitwirkung des Musikers Monk selbst. Strank zufolge schließt der Film damit an ein vorgefertigtes Konzept des Künstlergenies, „das sich gegen Widrigkeiten zu seiner Zeit behaupten muss und dem notfalls eben erst nach dem Tod der gerechte Ruhm zuteil wird; das in seiner kindlichen Unbedarftheit beschützenswert und auf Mäzene angewiesen ist; das immer am Rande der Krankheit wandelt und permanent der Gefahr ausgesetzt ist, die Grenze vom Genie zum Wahnsinn endgültig zu überschreiten; das durch seine Exzentrik von der Herde schon früh getrennt wurde und durch die Expertise der Kunstliebhaber nachträglich heiliggesprochen werden muss“. Die ursprüngliche Idee eines Dokumentarfilmes, der seine Aussage aus den eingefangenen Bildern heraus entwickelt, in diesem Fall aus der beharrlichen Kameraarbeit, die die Besonderheiten von Monks Spielweise augenfällig macht, wird durch die Einbindung des Filmes in die vertrauten filmischen Erzählmuster in das seit dem 18. Jahrhundert in Europa ideologisch vorgeprägte Narrativ vom Künstlergenie überlagert.

In seinem bewusst provokativ gesetzten Vortrag „The Jazz Film as Provocation“ umriss der Filmwissenschaftler Nicolas Pillai vom Department of Film and Televisionstudies der University of Warwick und der School of Media an der Birmingham City University deutlich, wo nur zu häufig die Trennlinien zwischen Filmwissenschaft und Jazzjournalismus verlaufen:

“I don’t care about authenticity. I’m bored of talking about it. I don’t care whether the Charlie Parker story told in Whiplash is historically accurate because I understand, as Richard Brody seems incapable of understanding, that these are lines of dialogue being spoken by a fictional character, with his own motives and agency. The articulation of this dialogue (a scripted line) is just one element in a much larger and complex set of interactions between an actor’s performance, a camera’s placing and movement, a lit set, a textured image, a whole world of glances and bodily interactions created by the magic of film editing. If you write about a film, and you fail to consider these dynamic and ever-shifting elements – if you chastise a film merely for being inaccurate or inauthentic – then you have fundamentally misunderstood what film is. And, as I will argue later on, I think you have also fundamentally misunderstood what jazz is.

My interest in Hollywood film is as a creative art, in which audiovisual patterns and genre conventions create meaning for the viewers, who in turn bring a degree of interpretive skill to their consumption of the film. I don’t believe in passive viewers, just as I don’t believe in reducing a film’s complexity to one single message.”

Dem Beharren auf Authentizität als ästhetischer Kategorie und auf historischer Faktentreue, dem Jazzjournalisten spontan eher zuzuneigen scheinen, hielt Pillai hiermit ein ausdifferenziertes Vokabular entgegen, das arbeitsteilig organisierte, bedeutungsprägende Elemente bezeichnet, aus deren Zusammenwirken sich erst die Bedeutung eines Filmes ableiten lässt. Dem Forscher aus Birmingham und Warwick zufolge geht es in einem Film, zumal in einem fiktionalen, um ein Zusammenspiel von Elementen wie der schauspielerischen Leistung, einem von einem Drehbuchautor vordefinierten Text eine klangliche Gestalt zu geben und der Fähigkeit mit subtilen, körpersprachlichen Mitteln, mit Melodie und Rhythmus von Kameraeinstellungen  und –bewegungen, von Licht- und Schattenwirkungen, Bildtexturen, deren schließliche Kombination erst im Prozess von Schnitt und Montage festgelegt wird. Eine solch fragile Balance eines enorm ausdifferenzierten Vokabulars von bedeutungsformenden Elementen, wie es Pillai hier für die filmische „Sprache“ ausbuchstabiert, gibt es (bisher?) im Jazz eher nicht, nicht in der Jazzforschung, die sich eher in musikimmanenter Mikroskopie ergeht und schon gar nicht im Journalismus, der sich häufig mit musiktechnisch untermauertem „Meinen“ zufrieden gibt. Die Konstituierung von Bedeutung ist in der Terminologie der Filmwissenschaftler zu verstehen als ein dynamisches, sich immer wieder verändernder Prozess vor dem Hintergrund von zu Konventionen geronnenen, genrespezifischen Darstellungsgewohnheiten, die zwischen Horror- und Actionfilm, Krimi und Komödie und Melodram stark voneinander abweichen, und deren Verständnis die aktive Mitarbeit eines Publikums erfordert, das in der Dekodierung dieser Konventionen geübt ist. In diesem Zusammenhang deutet Pillai jede Verwendung von Jazz im Film als die Begegnung zweier getrennter Sphären von Bedeutungsproduktion, in der sich die Bedeutung des „Jazz“ als solcher in Richtung seiner ökonomischen Verwertbarkeit verschiebt. Andererseits schleppt der Jazz als konstituierendes Motiv ein Moment von Dissonanz in die filmische Sprache ein, das der Film mit seinen visuellen Mitteln weitertreiben könnte. Als visuelle Dissonanz in diesem Sinne wären die Abweichungen beispielsweise von den genrespezifischen filmischen Codes zu verstehen, in denen ein Film ansonsten angesiedelt ist.

Nachdem der britische Musikjournalist Selwyn Harris in seinem Referat „Jazz in The Cinema of the Nouvelle Vague – Kind of New“ nach Gemeinsamkeiten suchte, die erklären könnten, warum Jazz vergleichsweise häufig und prominent in den Filmen der Nouvelle Vague der frühen 60er Jahre zu hören war und immer wieder feststellte, dass er in diesen Filmen als ein Signifikant für Jugendlichkeit, Freiheit, Ungebundenheit, für den urbanen Lebensstil der Bohème eingesetzt wird, stellt der Zürcher Filmwissenschaftler Wolfgang Fuhrmann in seinen Ausführungen über „Imperial Projections – Screening the German Colonies“ die Nutzung des Signifikanten Jazz im deutschen Film der 50er-Jahre in den größeren Zusammenhang der Thematisierung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Brasilien. Besonderes Gewicht legte Fuhrmann dabei auf die Nachkriegszeit, wo er anhand von Filmen wie dem Erfolgsthema „Charleys Tante“, den Hans Quest 1956 erfolgreich mit Hans Rühmann und Géza von Cziffra nur sieben Jahre später mit Peter Alexander neu verfilmte. Ganz besonders arbeitete Fuhrmann dabei die Modernität heraus, die nach der Einweihung des im Geist der Moderne am Reißbrett konzipierten Brasilia als Hauptstadt des aufstrebenden Brasilien zu einem leitenden Motiv wurde, das er am Beispiel von Wolfgang Schleifs „Weit ist der Weg“ noch einmal nach den Kriterien Hautfarbe und Geschlechterrollen aufdröselt.

Tendenziell eher von seiten des Jazz aus suchte der Wuppertaler Kulturjournalist und Dokumentarfilmer Thomas Mau später in seinem Referat „Jazz on Screen – Jazz-Dokumentarfilm zwischen „Talking heads“ und „Direct Cinema““ nach Modellen für die visuelle Übernahme musikalischer Strukturprinzipien wie Rhythmus und Improvisation. Ausführlich widmete er sich dem Film „Step Across the Border“, einem Portraitfilm von Nicolaus Humbert und Werner Penzel aus dem Jahr 1990 über den Avantgardegitarristen Fred Frith, der sich dem formalen Sog des Bio-Pic entzieht. Im Anschluss an die Filmemacher, die selbst von einer „ninety minute celluloid improvisation“ sprechen, untersuchte mau zunächst die sehr schnelle Schnittfolge des Vorspanns, einer Folge von graphischen Zeichen, Buchstaben, Silben, Worten  die direkt angelehnt ist an die Rhythmik der untergelegten Musik. Sicher ist diese Bildsequenz nicht improvisiert, aber sie greift eine Reaktionsweise auf, die auch improvisierende Musiker nutzen könnten und evoziert die Idee einer spontanen, also improvisatorischen Interaktion zwischen Musik und Bild, Mau nspricht vom „improvisatorischen Look“. Auch weiterhin richtete Mau sein Augenmerk besonders auf die Art und Weise, wie der Film mit den musikalischen und klanglichen Ereignissen, die darin vorkommen interagiert. Die Sorgfalt mit dem der Ton jeder Szene behandelt wird, die Kennzeichnung einzelner Sequenzen und Abschnitte durch Soundmarker und ähnliche Charakteristika. Doch bei allem Kunstfertigkeit, bei allem Einfallsreichtum und aller Kreativität konnte auch dieser Film die grundlegende Frage, die nämlich, ob Improvisation im Film überhaupt als solche wahrnehmbar sein kann, nicht beantworten. Auch eine beruhigende Perspektive, sowohl für die eine Welt, wie auch für die andere.

Die Frage nach Wechselbeziehungen zwischen Film und Jazz von seiten des Jazzjournalismus häufig vor allem als Frage nach den Wahrheitsgehalten filmischer Darstellungen aufgefasst wird und entsprechend Geschmacksurteile und die dazu gehörigen Abwehrreaktionen hervorruft. Die eher produktionsästhetisch gerichtete Frage, wie Jazzmusiker filmische Verfahren wie Montage, Kadrierung oder auch Inszenierung in ihre eigenen Kunstform übersetzen und als bedeutungsformende Elemente ihrer eigenen jazzmusikalischen Positionen nutzen, blieb dagegen ungestellt. Angesichts dieser unterschiedenen Perspektiven zielten auch Nachfragen und Forderungen wie beispielsweise nach dem musikologischen Erklärwert filmischer Verwendungen von jazzmusikalischen Klängen und auch damit verbundenen Bildern direkt ins Leere.

Programm

Claus Tieber
Jazz und Film – ein weites Feld

Willem Strank
Straight, no chaser – Thelonious Monk im Film

Nicolas Pillai
Jazz Film as Provocation

Selwyn Harris
Jazz in the Cinema of the Nouvelle Vague: A Kind of New

Wolfgang Fuhrmann
Imperial Projections – Screening the German Colonies (2015

Thomas Mau
Jazz on Screen – Jazz-Dokumentarfilm zwischen „Talking Heads“ und „Direct Cinema“)