Texte

Mit freundlicher Genehmigung von jazzcity.de

Siegfried Schmidt-Joos (Hg)
Jazz-Echos aus den Sixties
Kritische Skizzen aus einem hoffnungsvollen Jahrzehnt
Kamprad Verlag, 2022
228 S., 19.60 €

Am 22. Mai 1959 spielt der Saxophonist Ornette Coleman sein Album „The Shape of Jazz to come“ ein, darunter das Stück „Congeniality“; in seinem berühmten Quartett befindet sich u.a. der Trompeter Don Cherry.
Sechs Jahre später beurteilt der Jazzkritiker Werner Burkhardt (1928-2008) in einem Porträt über Don Cherry dessen Performance in diesem Stück so:
„Was jedoch gewinnt Don Cherry, wenn er darauf verzichtet, ordentlich Trompete zu spielen? Bei den ersten Aufnahmen, die er mit Ornette Coleman eingespielt hat, gewinnt er nichts. Da wohnen wir öffentlichem Üben bei, hören unsaubere Etüden, die ins Kämmerlein, aber nicht auf die Schallplatte gehören, und müssen unbewältigte Einflüsse konstatieren. In ´Congeniality´ auf der Atlantic-LP ´The Shape of Jazz To Come´ werden wir an Dizzy Gillespie erinnert, und das ist bei einem so ungelenkigen Trompeter wie Don Cherry ja ein peinlicher Griff nach den Sternen“.
Ein solcher Ton muss Nachgeborene und und auch Zeitgenossen heute überraschen, Ikonen wie Don Cherry werden heute durchweg pfleglicher und nachsichtiger behandelt.
Trotz dieser scharfen Kritik tritt Burkhardt Don Cherry aber nicht – wie man heute sagt – „in die Tonne“; er ringt mit seinem Urteil, er entdeckt durchaus Momente, wo der Trompeter zu sich selbst findet, zum Beispiel auf Sonny Rollins´ „Our Man in Jazz“, 1963 („Hier steht Don Cherry seinen Mann.“)
Wiederum Jahre später, bei einer Jam Session in Schwabing, („ich saß an meinem Tisch und versuchte gerecht zu sein“), trat Cherry an diesen heran und sagte: ´In fünfzig Jahren gehört das, was ich jetzt spiele, zur Tradition´. Also sprach Don Cherry, und auf diesen Ausspruch haben meine Freunde in Hamburg sehr trocken reagiert. Sie meinten: ´Na, der soll sich freuen, wenn in fünfzig Jahren überhaupt noch jemand seinen Namen kennt´.
Heute wissen wir: Don Cherry hat seine Münchner Prophezeiung so halbwegs überlebt, die anonymen Hamburger Freunde Burkhardts die ihre nicht.
Weitaus mehr als die Schärfe des Urteils und, ja auch, die Eleganz der Sprache, in der sie hervortritt, überrascht, nein verblüfft ihr Ort.
Werner Burkhardt äußert sich im Januar 1965 nicht dort, wo man ihn vermutet hätte: im Feuilleton oder im Radio – er äußert sich im „Jazz Echo“. Und das lag damals gar nicht offen zu Tage. Das musste man erst mal finden.
Das „Jazz Echo“ war quasi versteckt als 8-seitiger, monatlicher Einhefter im Magazin „Gondel“.
Das kannten wir Jugendliche selbstverständlich, von verschämten Blicken am Bahnhofskiosk. Man hätte es uns gar nicht verkauft, weil es schon mit dem Titelbild an uns Minderjährigen vorbei adressiert war: junge Frauen in Pose, im Badeanzug, später im Bikini.
Seit 1948 schaukelte das „Jazz Echo“ versteckt in der „Gondel“.
(Ein analoger Fall waren Ende der 60er die „Sankt Pauli Nachrichten“; erotisch zwar weitaus dreister. Aber – zuverlässig in der Information über alles, was damals über John Mayall, Peter Green oder Alexis Korner zu berichten war.)
Erster „Jazz Echo“-Redakteur war ein gewisser Joe Brown, das kaum verhüllte Pseudonym des ersten Radio-Jazzredakteurs in Deutschland: Joachim Ernst Berendt!
(Kleine Utopie am Rande: wäre heute ein ARD-JazzredakteurIn in seinem Job überlebensfähig, der auch nur ein kleine Jazz-Kolumne sagen wir im „Playboy“ betriebe?)
1959 übergibt Berendt alias Brown die Verantwortung an Siegfried Schmidt-Joos, sehr viel später einer seiner zahlreichen Gegner.
Schmidt-Joos, 86, war damals Jazzredakteur bei Radio Bremen, später (nicht nur für Jazz) beim Spiegel, beim RIAS und beim Sender Freies Berlin.
Gegenwärtig beschäftigt sich der „elder statesman der deutschen Jazzpublizistik“ (was, entgegen seiner Annahme, keinerlei ironischen Unterton besitzt) mit der Evaluierung seines umfangreichen Archivs.
Gegenüber „Es muss nicht immer FreeJazz sein“ (2021)
https://www.jazzcity.de/index.php/buecher/2552-siegfried-schmidt-joos-es-muss-nicht-immer-free-jazz-sein
bringt er mit seinem neuen Archivgang die, alles in allem, sicher gewichtigeren Funde ans Licht.
Dabei hält er sich nicht weiter auf mit der Komik, vielleicht auch Tragik des Publikationsortes, ein Jazzmagazin eingeschlagen in eine, nun ja, Sex-Postille (hier hätte er in einem luftigen Feuilleton bis an die Bordellnähe des frühen Jazz zurückschreiten können). Er hat eine Botschaft, es geht ihm darum, „sich an Auseinandersetzungen, wie wir sie damals führten, in einer Zeit noch einmal zu erinnern, die bezüglich des Jazz um sehr viel spannungsärmer und einschläfernder geworden ist. Ich gestehe mir übrigens zu, die Sixties nächst den Forties für das spannendste Jahrzehnt der Jazzgeschichte zu halten“.
Ob man dieser Perspektive nun zustimmt oder nicht, Schmidt-Joos´ Selektion reicht allemal für einige staunenswerte Beiträge, vermutlich ein „Best of Jazz Echo“ aus den sechzigern.
Bis auf den Herausgeber sind alle Autoren verstorben: Joachim Ernst Berendt (1922-2000), Ingolf Wachler (1911-1988), Werner Burkhardt, Manfred Miller (1943-2021), sowie die beiden Amerikaner Nat Hentoff (1925-2017) und Mike Zwerin (1925-2015).
Unabhängig davon, ob sie mit ihren Urteilen „richtig“ lagen, waren bzw. sind sie mehr oder weniger Stilisten. Ja, ihre Sprache ist zeittypisch: die Leser werden gesiezt, die Autoren schreiben auch über Frauen, vulgo: Sängerinnen; die Vorstellung, sich etwas anderem als des generischen Maskulinum zu bedienen, hätten sie mit der Formvollendetheit abgewiesen, in der sie Damen in den Mantel halfen.
Ja, sie schrieben eleganter, höflicher – und kritischer. Und eben das mag Zeigenossen wie Nachgeborene vielleicht doch am meisten überraschen. Zum Beispiel der sanfte Werner Burkhardt, dass er so mit Don Cherry umspringt. Oder Mike Zwerin, der ohne großes Aufhebens einen zentralen Glaubenssatz des Jazz („Wer derart zauberhafte Musik spielt, muss auch als Mensch so sein – davon bin ich überzeugt“) anhand von Miles Davis´ „Bissigkeit“ widerlegt.
Oder Manfred Miller, um des Urteils Schärfe selten verlegen. Im Jazz-Echo 8/1966 macht er den jungen Wolfgang Dauner einen Kopf kürzer („In diesem Sinne ist – gestatten Sie die soziologische Terminologie – der Jazz des Wolfgang-Dauner-Trios Ideologie, falsches Bewusstsein von der Wirklichkeit, das deren mögliche Veränderung gerade verhindert“.)
Yes, Folks, those were the days. Das ist nun wirklich ein Sound der Sixties; in bestimmten Kreisen hielt man ihn für soziologisch, obwohl er doch nur vulgär-marxistisch war.
Dass Miller derart mit Dauner umspringt (insbesondere dessen Album „Dream Talk/Trio 64“) muss im hier präsentierten Panorama des „Jazz Echo“ überraschen (es reicht von John Lee Hooker und Frank Sinatra bis Bill Evans und Eric Dolphy).
In Heft 9/1966 betätigt er sich nämlich (ähnlich wie in der legendären ARD-Sendung im Mai 1967) als eloquenter Advokat des im Kontext der Hefte ja stilistisch nicht so weit entfernten Peter Brötzmann.
Dass Miller vergisst zu erwähnen, im Juni 1967 an der Produktion von Brötzmanns „For Adolphe Sax“ beteiligt gewesen zu sein (und sie in Berendt´scher Manier im „Jazz Echo“ 10/1967 bespricht), mag als lässliche Sünde erscheinen gegenüber dem Lesevergnügen, das sich auch heute noch einstellt.
Wenn er en detail die Ablösung von überkommenen Strukturen beschreibt und seinem Motto folgt: „das einzig mögliche Kriterium zur Beurteilung einer neuen Musik (ist) ihre innere Stimmigkeit“.
Die sieht er bei Brötzmann als gegeben. Und man muss höllisch aufpassen, nicht auch die problematischen Annahmen mitzuverdauen, die sich darin verstecken. Sie zeigen sich in Sätzen wie diesem:
„Erst wenn der persönliche Ausdruck Form gewinnt, Objektivität also und Verständlichkeit, ist die Musik über den bloßen gutgemeinten, aber misslungenen Versuch hinaus“.
Objektivität und Verständlichkeit mit der Form der Musik gleichzusetzen – heikel.
Oder dieser hier, bis heute einer der zentralen Glaubenssätze des Jazz:
„Die Musiker sind identisch mit dem, was sie spielen. In einer musikalisch
hochdifferenzierten Sprache teilt sich Persönliches mit“.
Was erfahre ich „Persönliches“ über den Menschen Brötzmann in seiner Musik?
Sind John Lee Hooker oder Charlie Parker weniger identisch mit dem, was sie jeweils spielen?
Dieser Satz hingegen erweist sich 56 Jahre später eindeutig als falsch. Er bringt den Untertitel des Bandes („Kritische Skizzen aus einem hoffnungs-vollen Jahrzehnt“) in idealtypischer Weise zum Klingen:
„Die Avantgardisten des Peter Brötzmann Trios spielen heute, was für viele erst morgen schön sein wird“.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Man wird zudem gute Gründe finden für die Annahme, dass sie sich nie erfüllen wird – zumal sie die Frage miteinschließt, ob denn „gute“ Musik“ auch „schön“ sein müsse.
(Eine Überlegung, der Karl Rosenkranz schon 1853 seine „Ästhetik des Hässlichen“ entgegenstellte).
Es macht Spaß, ja es ist intellektuell ertragreich, in das Schreiben über Jazz vor 60 Jahren einzutauchen. Um den Jazz von damals – und auch den von heute – besser zu verstehen.

PS: Auf Seite 90 hat Schmidt-Joos oder sein Verleger ein- nein kein deep fake, sondern ein shallow fake hingemogelt: das vorgebliche Titelbild von Jazz-Echo 8/1966 kann unmöglich authentisch sein. Es zeigt einen schon recht fülligen Wolfgang Dauner sowie im Hintergrund Volker Kriegel. Beide mithin zu einem Zeitpunkt, da das Jazz-Echo schon etliche Jahre verklungen war.

RJR-Mitglied Stefan Hentz liefert einen detaillierten Bericht zur 36. Radio Jazz Research-Arbeitstagung, die am 3. und 4. Januar 2019 in Münster stattfand.

Lange Zeit prägten sie als Gatekeeper das jeweils aktuelle Gesicht des sich entfaltenden Jazz. Labels waren das Warenzeichen, das einen verlässlichen Geschmack, eine verlässliche Qualität verbürgten, und zugleich standen sie für den Willen zur Dauer, für die Entschlossenheit, über tagesaktuelle Hits und Trends hinaus ein mehr oder weniger breit gefächertes Labelprogramm aufzubauen und der – durchaus auch ökonomischen – Kraft dies auch zu tun. Geführt von leidenschaftlichen Gründern und Eigentümern (oder manchmal auch angestelltem Leitungspersonal) bieten Labels den Musikern ihres Vertrauens die Möglichkeit, ihre Pläne zu verwirklichen und ihre Musik zu veröffentlichen. Labels unterstützen bei der Realisierung dieser Pläne und bei der Entwicklung von Strategien das vorliegende Produkt zu den Interessenten, zu Hörern und Multiplikatoren zu bringen, helfen, kommerzielle Misserfolge zu verdauen und setzen mit ihrer Auswahl dessen, was sie fördern, bis heute die Standards dessen, was hip und heiß ist im Jazz. Manche Phasen und stilistische Zweige der Jazzgeschichte sind so eng mit der Arbeit bestimmter Labels verknüpft, dass der Labelname fast schon zum Synonym für bestimmte Klangvorstellungen geworden sind: Blue Note oder Prestige, Impulse oder ESP, Intakt oder FMP oder ECM – die Liste bleibt offen.

Mit dem Prozess der fortschreitenden Konzentration der Musikindustrie, tritt allerdings die Bedeutung der Labels, von denen viele mittlerweile als Untereinheiten der großen Unternehmen nur noch wenig mehr behalten haben als den vertrauten Namen, etwas zurück … [Weiterlesen]

Unser Mitglied Stefan Hentz blickt zurück auf die «Wildcard»-Tagung, die Anfang April diesen Jahres in Remagen stattfand. In seinem Bericht zeigt er die Verbindungslinien zwischen den doch auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Themenfeldern der Vorträge auf. Hier geht es zum Beitrag.

Radio Jazz Research-Mitglied Sebastian Scotney blickt zurück auf die Tagung «Jazz und Humor», die Anfang Juni in Lübeck stattfand. Der englische Beitrag ist hier abrufbar.

Ein Text von Stefan Hentz

Der Fortschritt, sagt man, ist eine Schnecke. Oder vielmehr: ein Krebs. Die Vorstellung zumindest, dass sich die Dinge, die Kunst, Musik, die sozialen und zivilisatorischen Verhältnisse- langsam zwar – nach vorne zum Besseren bewege und immer weiter nach vorne, lässt sich schon lange nicht mehr halten. Der Fortschritt weicht aus, links, rechts, oder geht rasch ein, zwei Schritte zurück, bevor dann wieder einige Schritte voran folgen. Und was in vielen Fragen und Bereichen und im Allgemeinen zu gelten scheint, das gilt auch im Jazz. Da mag man sich im einen Moment über Erreichtes freuen, über plötzliche Akzeptanz, unverhofften Förderungswillen privater oder öffentlicher Hände, echte oder auch nur angetäuschte Sympathiebekundungen von Machtmenschen oder wichtigen Influencern, neue oder zumindest neu strukturierte Auftritts- oder Publikationsorte und/oder -medien und längst abgeschriebene Publikumsströme – im nächsten Moment scheint alles wieder dahin oder schlimmer. Das reale Leben ist verwirrend und ungleichzeitig – auch im Jazz.

Unscheinbare Fort- und scheinbare Rückschritte kennzeichnen in den vergangenen Jahren auch die Entwicklungstendenzen des Jazz in Deutschland. Der Echo Jazz gibt dem Jazz für einen Lidschlag eine ungewohnte Prominenz in der Öffentlichkeit des Fernsehens, wird jedoch von vielen Musikern in der bisherigen Form eher als eine unangenehm paternalistische Form der Zuwendung angesehen, bevormundend und an der präsentierten Musik nicht wirklich interessiert. Doch die widersprüchlichen Bedürfnisse, die in den erregten Debatten über diese Selbstfeier einer Nische der Musikwirtschaft zum Ausdruck drängen, führen nicht zu einer ernsthaften Selbstverständigung über die noch in der Nische ungebrochenen Rollenverteilungen zwischen Männer und Frauen, David und Goliath, zwischen Musikern, Labels und der großen Medienmaschine mit der audiovisuellen Wasserverdrängung, zwischen purem Existenzminimum, prekären Labelexistenzen und den vergoldeten Fassaden der eingebildeten Glamourfabriken. Stattdessen endet die Diskussion als Gegenstand einer wiederum fehlerhaft recherchierten, skandalisierenden Berichterstattung in anderen Medien, TV, Print oder online: Fortschritt? Rückschritt?

Oder wie ist es einzuschätzen, wenn eine in langen Zeiträumen entstandene Förderstruktur in einer Region plötzlich durch unverhoffte Förderungen an einer Stelle in ein neues Gleichgewicht streben, wenn Leuchtturmprojekte entstehen (Köln) oder angestrebt sind, (Berlin)? Welche Folgen haben solche Projekte, die die Wahrnehmung des Jazz zwangsläufig hierarchisieren, für die auf See navigierenden Musikschiffe und für die angrenzenden Küstenstreifen mit ihren bestehenden Clubs und Szene-Institutionen? Wirken sie befruchtend für alle, weil sie helfen veranstalterische Cluster mit den entsprechenden Gravitationskräften zu bilden? Oder strahlen sie so hell, dass alle anderen in Gefahr geraten, überstrahlt zu werden und nicht mehr wahrnehmbar zu sein.

In Deutschland gibt es knapp zwanzig Musikhochschulen, die einen Jazzstudiengang anbieten. Ohne jeden Zweifel ist dies ein Fortschritt. Zugleich ähneln sich diese Studiengänge in ihren jazzpädagogischen Schwerpunktsetzungen und befördern somit eine gewisse Konformität, die möglicherweise die postulierten Ausbildungsziele wieder konterkariert. Auch hier ließe sich beobachten, dass Fortschritt leicht in Rückschritt umschlagen kann.

In der Gesprächsrunde „Fortschritte – Rückschritte – Perspektiven des deutschen Jazz“ bringt Arne Schumacher drei Protagonistinnen der aktuellen deutschen Jazzszene ins Gespräch, die in Hamburg und Köln ausgebildete Bassistin und Komponistin Hendrika Entzian, die Produzentin Stefanie Marcus von dem erfolgreichen Berliner Label „Traumton“ sowie Lena Jeckel, künstlerische Leiterin des Bunker Ulmenwall in Bielefeld.

 

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