15. Arbeitstagung in Freiburg | 15. und 16. September 2010

15. Arbeitstagung, 15. bis 16. September 2010 in Freiburg

Wild Card – Themenoffene Tagung

Unter dem Titel „Im Dialog mit den USA – Entwicklungen des Jazz in Europa in den 1960er und ’70er Jahren“ widmete sich der in Mannheim lehrende Jazzhistoriker Jürgen Arndt den beiden hauptsächlichen Perspektiven der Jazzgeschichtsschreibung dieser Periode. Deren eine entstammt dem englischsprachigen Bereich und betont insbesondere den Zusammenhang des Jazz mit den Entwicklungen im Blues und im Rock. Die zweite, primär den Veröffentlichungen von Ekkehard Jost geschuldete, steht für den deutschen Sprachraum und betont – wen wundert es angesichts ihres Protagonisten? – vorderhand den Zusammenhang von Jazz und Avantgarde.

Das Tagungsprogramm

  • Prof. Dr. Jürgen Arndt Im Dialog mit den USA – Entwicklungen des Jazz in Europa in den 1960er und 70er Jahren
  • Pius Knüsel im Gespräch mit Michael Rüsenberg Jazzförderung in der Schweiz
  • Prof. Stuart Nicholson Jazz and the Media Today
  • Dr. Bernd Hoffmann Das Orchester Kurt Edelhagen
  • Thomas Mau Das Europäische beim Orchester Kurt Edelhagen
  • Tina Heine im Gespräch elbJazz – Binnensicht auf ein neues Festival
  • Prof. Dieter Manderscheid im Gespräch mit Jörg Heyd Jazz in der Hochschulausbildung
  • Prof. Dr. Franz Krieger „Matrix“: Komposition – Improvisation. Aspekte des musikalischen Schaffens von Chick Corea

Jürgen Arndt widmete sich der Frage, ob diese beiden Positionen nicht vielleicht doch näher beisammen liegen, als dies a priori erscheint, und er ging in seiner Argumentation auf Literatur ein (insbesondere Andreas Reckwitz und Paul Stump) wie auch auf musikalisch-soziologische Bedeutungsträger (u. a. Alexis Korner und die Graham Bond Organization). In einem nächsten Schritt widmete er sich der Musikgruppe „Cream“ und stellte diese in zeitgenössischen Rezensionen dar. Sein Fazit, dass dieses Ensemble eine der wichtigen frühen Jazzrock-Formationen war, sorgte in der an das Referat anschließenden Diskussion für recht konträre Stellungnahmen.

Zum Bereich „Jazz und Avantgarde“ thematisierte der Referent den Komponisten John Cage und dessen Umfeld: die New-York-School sowie deren radikale Fortsetzung, die Fluxus-Bewegung. Daran anschließend ging Arndt auf Peter Brötzmann und dessen Zusammenarbeit mit Nam June Paik ein, und zuletzt wurde Misha Mengelberg erörtert, der ja ebenfalls von John Cage und Fluxus wesentlich beeinflusst wurde. Das letztendliche Resumee, dass zwischen den beiden eingangs erwähnten Positionen durchaus Zusammenhänge zu erkennen seien, wurde abrundend durch etliche Tonbeispiele exemplifiziert. Wen bis dahin das gesprochene Wort ein ausreichendes Maß befriedigender Einsicht verwehrt hatte, dem wurde doch mit der erklingenden Musik gewahr, dass die Gesamtthematik noch mehr als genug Diskussionsbedarf impliziert. Dass diesbezügliche Wortmeldungen – durchaus auch in Form humorvoller Nebenbemerkungen – die ganze weitere Tagung durchzogen, spricht für die interessante Thematik dieses Vortrages.

In seinem Vortrag „Jazzförderung bei Pro Helvetia“ gab der Pro-Helvetia-Geschäftsführer Pius Knüsel einen Überblick über diese 1939 gegründete schweizerisch-staatliche Kulturförderung. Demnach liegt der Auftrag von Pro Helvetia in den Bereichen Werkförderung, Kulturpromotion und Kulturaustausch im Inland und auch im Ausland. Bei einem jährlichen Budget von knapp 4 Millionen Schweizer Franken für die Sektion Musik wird zwischen den Abteilungen Klassik, Pop, Jazz und Folk unterschieden, wobei auf den Bereich Jazz ca. 700.000 Schweizer Franken fallen. Dieser Budgetanteil entspringt jedoch keiner Quotenregelung, sondern es gibt einen ständigen Konkurrenzkampf um das Portfolio.

Die Kriterien, nach denen u. a. Tourneen, Festivals und mehrjährig bestehende Ensembles gefördert werden, gehen (a) auf die Nachhaltigkeit des Projekts ein, (b) darauf, ob es sich um einen anerkannten Veranstalter handelt, weiters, (c) ob zeitgenössische Musik vorliegt – denn nur solche wird gefördert! – und (d) ob die Musiker professionelles Können an den Tag legen oder (auch) experimentell agieren. Als Entscheidungsträger für die Vergabe der Geldmittel fungieren die Geschäftsstelle (bei Summen bis 20.000 Franken) oder der Stiftungsrat.

Nach der Darstellung diverser Details (Höhe von Gagen, Ausmaß der Eigenfinanzierung usw.) ging Knüsel auf die Prinzipien und Ziele diverser Jazz-Förderschienen ein, u. a. auf die Labelförderung sowie die für Jazzmusiker besonders relevante prioritäre Jazzförderung. Letzteres sind dreijährige Leistungsvereinbarungen mit ausgewählten Jazzbands, die pro Jahr mit 25.000 Franken für Auslandstourneen, CD-Produktionen und Kompositionen unterstützt werden.

Die sich an das Referat anschließende Diskussion problematisierte die teilweise extrem unscharfe Profilbildung vieler Jazzfestivals, und es wurde hervorgehoben, dass die grundsätzliche Aufgabe von Pro Helvetia nach wie vor eine politische sei. Knüsel betonte diesbezüglich, dass die Gründung von Pro Helvetia eine Reaktion auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges war, da die Gefahr bestand, dass sich die deutschsprachige Schweiz Deutschland anschließt. Die heutige politische Aufgabe von Pro Helvetia bestehe darin, die durch mediale Übersättigung hervorgerufene Ignoranz des Publikums zu bekämpfen.

Der aus Großbritannien stammende und zuletzt durch sein Buch „Is Jazz Dead?“ ins Rampenlicht gerückte Stuart Nicholson brachte mit seinem Vortrag „Jazz and the Media Today“ die Kurzfassung einer Dokumentation, die er im Frühjahr 2010 für die BBC verfasst hatte. Dabei stellte er Trends dar, die primär Großbritannien betreffen, jedoch in Ursache wie auch Auswirkung durchaus auf Kontinentaleuropa übertragbar sind. Ausgangspunkt seiner Erläuterungen war die Feststellung, dass die bedeutungsschwere Beziehung von Jazz und Medien so alt ist wie der Jazz. Diese Beziehung habe auch zu keiner Zeit mehr aufgehört, sich jedoch in ihrer Tiefe gewandelt. Nicholson unterlegte dies mit verschiedenen Beispielen und hob hervor, dass es in den 1990er Jahren bis kurz nach der Jahrtausendwende eine durchaus erfreulich intensive Auseinandersetzung der Medien mit dem Jazz gegeben habe: In der Qualitätspresse seien Features, Konzert- und CD-Rezensionen erschienen, in den Kulturkanälen des Fernsehens habe es gelegentlich Jazz-Dokumentationen gegeben, musikalische Jazzklassiker hätten im TV immer wieder einmal Verwendung gefunden usw. In den letzten Jahren sei jedoch das Interesse der Medien am Jazz signifikant zurückgegangen.

Dieser Feststellung schloss Nicholson eine Reihe von Fragen an, die dann auch die auf das Referat folgende Diskussion bestimmten: In welcher Weise wird Jazz innerhalb der heutigen Medienumgebung vom Publikum rezipiert? Entwickelt sich die populäre Kultur zu einer Mainstreamkultur? Besteht die aktuelle europäische Mainstreamkultur tatsächlich aus Namen wie Britney Spears und Eminem?

In seinen eigenen Antworten hob Nicholson hervor, dass das Zielpublikum für diese medial-kulturellen Erscheinungen junge Mädchen im Alter zwischen 8 und 16 Jahren seien. Davon ausgehend verwies er auf einen kulturellen Wandel, der in den letzten zehn Jahren Platz gegriffen habe und beleuchtete in diesem Zusammenhang drei kulturelle Konzepte, die seinen Worten nach mittlerweile unser aller kulturelle Realität formen: „Relativism“ (jede Meinung ist subjektiv und hat insofern ihren Wert und ihre Wahrheit; subjektive Wahrheit hat die objektive ersetzt), „instrumentalist ethos“ (der Wert einer Sache bemisst sich an deren – nicht zuletzt ökonomischen – Verwendbarkeit; die Summe solcher Erscheinungen wird ökonomischer Fortschritt genannt) und „anti-elitism“ (das Elitäre wird unter das Volk gebracht, indem das Elitäre massentauglich gemacht wird). Vor allem die Printmedien, so Nicholson, hätten diese neue Ausrichtung vollzogen, um „to appear relevant, accessible and in touch with popular opinion“ und kümmerten sich seither primär um Pop, Rock und Film.

Das hinsichtlich des Jazz bedrückende Fazit brachte Nicholson sprachlich prägnant auf den Punkt: „no distinction is made between knowledge and opinion, the latter usually predominating“.

Musikalische Analyse stand im Mittelpunkt des Referates von Franz Krieger (Graz, Institut für Jazzforschung). Unter dem Titel „‚Matrix‘: Komposition – Improvisation. Aspekte des musikalischen Schaffens von Chick Corea“ wurde der Frage nachgegangen, nach welchen musikalisch-strukturellen Gestaltungsweisen Chick Corea komponiert sowie die Reharmonisationen seiner Soli gestaltet. Das dabei untersuchte Musikstück, „Matrix“, entstammt der jazzhistorisch bedeutsamen LP „Now He Sings, Now He Sobs“ aus dem Jahre 1968. Als wesentliche Resultate wurden folgende Gestaltungsprinzipien dieser sehr komplex wirkenden Musik hervorgehoben: (1) Chick Corea findet mit wenigen, grundlegenden Gestaltungsmitteln das Auslangen (Gegensatzpaar Einfachheit–Komplexität; Sus-Akkord als Schwebeklang; Rückung als Verfremdung). (2) Aus dem hohen Tempo ergibt sich zusätzliche Komplexität. (3) Dem Publikum werden durch einfache, wiedererkennbare Passagen immer wieder musikalische Orientierungspunkte geboten. Diese schaffen die Akzeptanz für extreme Komplexität.

Der Beitrag von Bernd Hoffmann, dem Leiter der Jazzredaktion des Westdeutschen Rundfungs (WDR), unter dem Titel „Das Orchester Kurt Edelhagen im Film“ war nicht als Referat im üblichen Sinn, sondern als Präsentation ausgewählter Filmpassagen konzipiert. Die derart vorgestellten Ausschnitte (u. a. „Bühne frei für Marika“ mit Marika Rökk aus dem Jahr 1947 sowie „Armer Gigolo“ aus dem Jahr 1959) stammen aus den Archiven des WDR, wo sie öffentlich nicht zugänglich sind und daher für das Publikum dieser Tagung von umso größerem Interesse waren.

Ebenfalls aus den Archiven des Westdeutschen Rundfunks, nun aber Tondokumente betreffend, schöpfte der WDR-Mitarbeiter Thomas Mau in seinem Referat mit dem Titel „Das Europäische beim Orchester Kurt Edelhagen“. Hierbei muss man sich vor Augen halten, dass es vom Kurt-Edelhagen-Orchester rund 3.000 Aufnahmen gibt, von denen jedoch nur die wenigsten veröffentlicht sind und die meisten in den WDR-Archiven lagern.

Der 1982 verstorbene Edelhagen, ein studierter Klarinettist, Pianist und Dirigent, wechselte 1957 vom Südwestfunk Baden-Baden zum WDR. Ab diesem Zeitpunkt widmete er sich vermehrt dem Anliegen, „europäischen“ Jazz zu kreieren So thematisierte der Referent die Frage, was denn, sofern vorhanden, das Europäische an seiner Musik war. Umrahmt von einer Fülle an interessanten Musikbeispielen (darunter eine Adaption des Frühlingsstimmenwalzers von Johann Strauß), gab Thomas Mau seine Antwort in vier Punkten: (1) Aufgabe des Beat zugunsten einer Rubato-Rhythmisierung; (2) Fehlen bzw. Reduzierung des Improvisatorischen; (3) Dominanz des Kompositorischen; (4) Verarbeitung von Themen aus Klassik und Volksmusik.

Die beiden abschließenden Beiträge der Tagung bestanden jeweils aus Interviews. Das erste, unter dem Titel „Tina Heine (Festivalleiterin) im Gespräch: Elbjazz – Binnensicht auf ein neues Festival“, führte Arne Schumacher. Seine Gesprächspartnerin Tina Heine, ihres Zeichens Gastronomin am Hamburger Hafen, entwickelte die Idee zu dem in seinem ersten Bestehensjahr bereits über die Bühne gegangenen Hamburger Jazzfestival Elbjazz. Zu diesem zwei Tage dauernden, am Hamburger Hafen an 15 Spielorten mit 56 Bands durchgeführten musikalischen Großereignis wurden Entstehung, Koordination, Probleme und deren Lösungen sowie vor allem auch finanzielle Aspekte erörtert. Auf besonderes Interesse stieß hierbei die Tatsache, dass es mit Heine einer Einzelperson gelungen war, die Initialzündung zu einer Jazzreihe dieser Größe zu geben.

Das zweite der Interviews lief unter dem Titel „Dieter Manderscheid (Dekan des Fachbereiches Jazz an der Kölner Musikhochschule) im Gespräch mit Jörg Heyd: Jazz in der Hochschulausbildung“. Manderscheid schilderte hierbei den Weg, den ein Jazzinteressierter zu bewältigen hat, um Jazz-Studierender in Köln zu werden. So ist es u. a. unerlässlich, dass Bewerber bereits ausreichend Ensemble-Erfahrung haben, und dennoch stehen den rund 350 Personen, die pro Jahr zur Aufnahmeprüfung antreten, nur insgesamt 10 bis maximal 30 Studienplätze gegenüber. Zudem gibt es, je nach Instrument, Unterschiede in der Anzahl der Bewerber. So sind zuletzt im Fach Schlagzeug 65 Personen zum Aufnahmetest angetreten, denen drei Studienplätze gegenüberstanden. Verschärft wird diese Situation für Bewerber dadurch, dass sie in Köln nicht öfter als zweimal zur Aufnahmeprüfung antreten dürfen. Sind sie zweimal durchgefallen, dürfen sie dieses Fach in Köln nie wieder studieren.
Das Studium dauert 8 Semester, und das Curriculum sieht lediglich im ersten Jahr so gut wie keine Wahlmöglichkeiten für die Studierenden vor. In diesem Abschnitt kommen allerdings auch bereits jene Fächer vor, die die nötigen Managementkenntnisse und praktischen Erfahrungen zur Selbstvermarktung vermitteln sollen. Hochschulgebunden exemplifiziert werden diese Jahr für Jahr in einem dreitägigen Festival, das die insgesamt rund 100 Studierenden selbst organisieren und bespielen.

Befragt nach dem Renommee der Kölner Jazzausbildung, verwies Manderscheid darauf, dass im Vergleich zu den angesehenen holländischen Bildungseinrichtungen wie auch zum Berklee College Of Music die Studierenden fast ausschließlich von außen nach Köln kommen. Die Hauptgründe dafür liegen, so der Referent, neben der Person des Hauptfachlehrers in erster Linie an den in Köln vorhandenen musikalischen Spielräumen.

Franz Krieger