Länderschwerpunkt Norwegen
Zu Beginn des Jahres kam der Verein Radio Jazz Research zu seiner 16. Arbeitstagung zusammen, zum dritten Mal war diese im Parkhotel Schloss Hohenfeld bei Münster – im Vorfeld des dortigen Jazzfestivals – anberaumt. Thematisch wurde die lose Länderschwerpunktreihe fortgesetzt, die norwegische Jazzszene stand diesmal im Brennpunkt der Referate und Musikergespräche.
Das Tagungsprogramm
- Dr. Andy J. Hamilton Jazz as classical music
- Prof. Stuart Nicholson The Nordic Tone
- Karsten Mützelfeldt THE NOR-WAY oder: „Wir sind die Wikinger von heute!“ – Zur Eigenart und Pflege eines nordischen Kreativ-Stammes
- Prof. Stuart Nicholson im Gespräch mit dem norwegischen Musiker Per Zanussi
- Bo Grønningsæter Förderung und Export – Einblicke
- Jan Granlie Die Jazz-Medienlandschaft Norwegen
- Stuart Nicholson im Gespräch mit dem norwegischen Musiker Håkon Kornstad
Mit „The Nordic Tone in Jazz“, dem Eröffnungsvortrag des englischen Musikjournalisten Stuart Nicholson, wurde gleich zu Beginn ein zentrales Thema angerissen. Nicholson skizzierte (in Anlehnung an das entsprechende Kapitel seines Buchs „Is Jazz dead? (Or Has It Moved To A New Address)“) die Entstehung des von ihm postulierten „nordic tone”, deren Wurzeln ihm zufolge in der dünn besiedelten Landschaft Skandinaviens liegen, in durch lange Winter entschleunigten Arbeitszyklen: Bedingungen, die, so Nicholson, ein Nachdenken über Leben und Tod begünstigen. Eine existenzielle Grundhaltung, die sich auch in der Volksmusik manifestiere, und die so ab den 1950er-Jahren in den Jazz eingeflossen sei – angeregt durch Stan Getz, der 1951 im Zuge einer Schweden-Tournee das Volkslied „Ack Värmeland du Sköna“ aufnahm: Für viele skandinavische Jazzmusiker ein Anstoß, sich in der Musik eigener Wurzeln zu besinnen. In weiterer Folge führte Nicholson u. a. Lars Gullin, Bengt-Arne Wallin, Jan Johanssen, George Russell (ab 1964 einige Jahre in Schweden beheimatet), Jan Garbarek und das junge Helge Lien Trio als Zeugen der Entwicklung des „nordic tone“ an.
Ausführungen, die in der Diskussion sogleich auf Widerspruch stießen: Vom „Nordic Tone“ als „Mythos“ (Bo Grønningsæter) war da die Rede, es wurde auf den Widerspruch zwischen friedvoller Natur und dem harten Überlebenskampf der Bewohner verwiesen, ebenso auf eine Aussage von Sängerin Karin Krog, die auf die zentrale Rolle des Münchener ECM-Labels hinwies: „The nordic tone was an invention of Manfred Eicher.“
Karsten Mützelfeld (WDR) stellte in seinem „THE NOR-WAY oder: ‚Wir sind die Wikinger von heute!’“ betitelten Vortrag die Diskussion der Frage, ob es sich beim Phänomen des „Nordic Tone“ um von außen projizierten Exotismus oder tatsächlich um eine gewachsene Tradition handelt, auf eine breitere, differenzierte Basis: Mützelfeld zitierte einerseits Musiker wie den norwegischen Saxofonist Karl Seglem, nach dem Jazz mit volksmusikalischen Bezügen vor allem in Deutschland, weniger in seiner Heimat, gefragt sei, wie auch den Coltrane-beeinflussten Kollegen Petter Wettre, dessen Musik nicht als genuin „norwegisch“ verkauft werden könne und deshalb weniger nachgefragt werde. Andererseits, so Mützelfeld, seien da junge Bands wie das norwegische Quintett „Atomic“ oder das Metal-Jazz-Ensemble „Shining“, die ihre Musik in bewusster Gegenreaktion auf die als „Mountain Jazz“ apostrophierten, sphärischen Klangmeditationen entwickelt hätten und damit sehr wohl international Gehör fänden.
Vertiefende Innenansichten der norwegischen Jazzszene boten die von Stuart Nicholson moderierten Musikergespräche mit Bassist Per Zanussi und Saxofonist Håkon Kornstad, die mit der „Zanussi Five“ bzw. im Duo mit Vokalistin Sidsel Endresen das Jazzfestival Münster schmückten, sowie Vorträge zweier nicht-musizierender Repräsentanten: Jan Granlie, Herausgeber der Magazins JazzNytt, skizzierte die Lage der Jazz-Medienlandschaft Norwegens und stellte diese alles andere als rosig dar: Während Granlie in seiner kurzen historischen Chronologie in den 1940er- und 1950er-Jahren eine erstaunliche Fülle an – freilich kurzlebigen – Magazinen anführte, sei die Situation des Jazz in Tagespresse und Rundfunk heute ebenso schwierig wie die seines bereits seit 1960 erscheinenden Magazins „JazzNytt“. „Nobody is writing about jazz in Norway anymore“, so Granlies etwas kulturpessimistische Conclusio, die möglicherweise durch den Umstand relativiert werden muss, das JazzNytt bis dato kaum auf begleitende Maßnahmen im Internet setzt.
Bo Grønningsæter (West Norway Jazz Center) hingegen gab einen Überblick über die durchaus bedeutenden staatlichen Förderstrukturen den norwegischen Jazz, die sich als Teil nationaler Export-Diversifizierung, als strategisch entwickelte Alternative zur Öl- und Fischindustrie, verstünden. So sei man mit dem „Jazz Norway in a NutShell“-Programm nicht nur in Europa, sondern auch in Hongkong, Australien, Korea und auf den Philippinen präsent. Das in Analogie zum „Dutch Jazz Meeting“ organisierte Nattjazz-Festival in Bergen, zu dem Veranstalter aus ganz Europa eingeladen werden, hätte zu rund 500 Engagements norwegischer Musiker geführt. Wobei die Praxis, sich an den Kosten durch Übernahme der Reisespesen zu beteiligen, als Anreiz fungiert.
Einen thematischen Exkurs in andere Gefilde bedeutete der Vortrag „Jazz as classical music“, in dem sich Andy J. Hamilton (Durham University) mit verschiedenen Sichtweisen von Jazz als (amerikanischer) klassischer Musik – u. a. in Gestalt der Positionen Billy Taylor und Wynton Marsalis‘ – und deren Implikationen auseinander setzte.
Andreas Felber