Festivals
Zwei Dinge braucht der Jazz: Authentizität und Struktur. Das eine hebt die gelungenen Produkte des Genres aus der Masse des Ähnlichen heraus und macht ihn interessant, das andere sichert seine Reproduzierbarkeit und letztlich seine Existenz – und beide zusammen sorgen in ihrer Dialektik für Spannung. Und so wie dieses Wechselspiel die Spannungsverhältnisse in der Musik jeder einzelnen Band, im Auftreten jedes Solisten in der Wahl der Mittel jedes begleitenden Musikers regelt, so bestimmt sie auch die verschiedenen Ansätze, den Jazz einem Publikum zu präsentieren.
Ganz besonders gilt dies bei den zahlreichen Festivals, deren Bedeutung für die lebendige Präsentation von Jazz in dem Maße gewachsen ist, wie die alltägliche Versorgung mit improvisierter Musik in den Clubs schütter geworden ist. Als Highlights im Jahreskalender tragen Festivals unweigerlich Züge eines Events, erzeugen Aufmerksamkeit und Resonanz in den Medien und schaffen Möglichkeiten, die im alltäglichen Veranstaltungsgeschäft nicht gegeben sind. „Festivals“ waren das Thema der 21. Arbeitstagung von Radio Jazz Research vom 3./4. Januar 2013, der das „24. Internationale JazzFestival Münster“ im Festivalhotel Schloss Hohenfeld einen komfortablen Unterschlupf gewährt hatte.
Sieben künstlerische Leiter von Festivals aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden reflektierten in moderierten Gesprächen über die Bedeutung von Festivals für den aktuellen Jazz im Allgemeinen und ihr jeweiliges Festival im Speziellen. Sie diskutierten das Wechselspiel von alten Hasen und jungen Hüpfern, internationalen Stars und lokalen Newcomern, von etablierten Standards und experimenteller Erneuerung, sie erörterten ihre Strategien von Markenbildung und Hörerbindung und diskutierten das „Altersproblem“ des Jazz und gangbare Wege zur Verjüngung des Jazzpublikums. Der Bogen reichte dabei von den „INNtönen“, die im Geschmack und Charisma ihres künstlerischen Leiters den Pol Authentizität fokussieren, über den Festival-Newcomer „elbjazz“, der seit drei Jahren im Spiel mit dem touristischen Reiz der „Parallelmarke Hafen“ daran arbeitet, den Boden in der „jazzmusikalischen Wüste“ Hamburg für den Jazz zu verbessern oder die „Zomerjazzfietstour“, eine sommerliche Fahrradtour mit musikalischen Zwischenstopps durch das Umland von Groningen in den Niederlanden, die Marcel Roelofs zu einem Festival mit über die Grenzen dringendem Ruf gemacht hat, bis zu etablierten Größen wie dem 1979 gegründeten „Internationalen Jazzfestival Münster“, dem 3-Städte-Festival „enjoy jazz“, das seit 1999 Jahr für Jahr im Herbst die „Rhein-Neckar-Metropolregion“ mit einem auf sechs Wochen gestreckten Reigen von etwa 60 – 100 hochklassigen Konzerten in einen Hotspot des internationalen Jazzgeschehens verwandelt, oder dem bereits 1964 gegründeten „Jazzfest Berlin“,Schaufenster der ARD-Jazzredaktionen und Flaggschiff unter den deutschen Jazzfestivals seit Jahrzehnten.
Alles beginnt mit dem Festivalleiter, und sehr vieles hört auch mit ihm auf. Seine zentrale Bedeutung drückt sich schon darin aus, dass einige von ihnen dieser Tätigkeit schon länger nachgehen. Fritz Schmücker bestimmt die Geschicke des „Internationalen Jazzfestival Münster“ seit 1985, ein Jahr später gründete Paul Zauner sein Festival, das nach einigen Umzügen durch das Innviertel, die österreichische Seite der Grenzregion zwischen Deutschland und Österreich, seit nun zehn Jahren unter dem Titel „INNtöne“ mit dem Zusatz „Jazz auf dem Bauernhof“auf dem Hof der Familie Zauner in Diersbach seine Heimat hat. Kein Wunder also, dass ihre Festivals mit ihnen identifiziert werden und die Zuschauer so stark auf den musikalischen Verstand und die Treffsicherheit des Festivalleiters vertrauen, dass sie es nicht mehr nötig haben, mit prominenten Namen, die auch über den Bereich des Jazz hinaus eine Ausstrahlung haben, die Werbetrommel zu rühren. Bert Noglik, der Leipziger Jazzpublizist, leitete achtzehn Jahre lang das Jazzfest Leipzig, bevor er im vergangenen November mit einem sorgfältig durchdachten Programm, das die vermuteten Ansprüche des in bald 50 Jahren gewachsenen Metropolenpublikums geschickt mit seinen eigenen musikalischen Vorlieben ausbalancierte, sein Debüt als künstlerischer Leiter des „Jazzfest Berlin“ gab. Marcel Roelofs ist seit mehr als zwanzig Jahren mit der „Zomerjazzfietstour“ verbunden, Rainer Kern leitet „enjoy jazz“ seit den Anfängen im Jahr 1999 und der WDR-Jazzredakteur Bernd Hoffmann gründete vor bald zehn Jahren „WDR 3 jazz cologne“, den Vorläufer des „WDR 3 Jazzfest“, und obwohl Tina Heine bisher erst drei Ausgaben von „elbjazz“ verantwortet hat, ist sie anerkannt als die ordnende Instanz hinter der Programmplanung. Man darf, sagt Rainer Kern, beim Programm keine Kompromisse machen, und Bert Noglik bezeichnet die Arbeit des Programmmachers als eine „im weitesten Sinn kreative Tätigkeit“.
Im modernen BWLer-Sprech lässt sich der Anreiz durch die erkennbare Handschrift eines künstlerischen Leiters als Markenversprechen fassen, das für den Zuschauer weit vor der Liste der auftretenden Musiker rangiert. Auf der Kehrseite allerdings, das unterstrichen Tina Heine mit ihrem Vortrag über Marketingstrategien zur Etablierung eines neuen Festivals und Rainer Kern in seinen Überlegungen über die Schwierigkeit, eine Festivalatmosphäre zu schaffen, schafft dieses Markenversprechen einen Bezugsrahmen, der jedem kleinen Baustein des Festivals seine Bedeutung zuweist und an dem sich die gesamte Außendarstellung des Festivals messen lassen muss. Zentrale Überlegungen wie die Gestaltung von Bühnen und Zuschauerräumen, von aber auch Nebensächlichkeiten wie Fahnen, die Aufdrucke an Sponsorenautos, die gastronomische Versorgung während des Festivals und bei jedem weiteren Auftreten der Marke Festival, „es ist das Gesamtpaket“, fasst Fritz Schmücker zusammen, es kann nur funktionieren, „wenn die Dramaturgie jedes Abends ein ganz neues Erlebnis bietet und den Versuch unternimmt, auch ein ungeübtes Publikum mitzunehmen.“
In der Palette der Festivalleitertemperamente verkörpert der bedacht argumentierende Intellektuelle Noglik den einen Pol. Paul Zauner, der österreichische Posaunist, Agraringenieur und Biobauer, der Mitte der Achtziger Jahre ein Jazzfestival ins Leben rief, das seit mittlerweile zehn Jahren mit dem Untertitel „Jazz auf dem Bauernhof“ zuhause bei den Zauners in einer Kulisse stattfindet, wie sie unentfremdeter, privater kaum vorstellbar ist, beharrt in diesem Zusammenhang auf der Unmittelbarkeit seines Bauchgefühls, das keinerlei konzeptioneller Leitplanken bedürfe. Allein die unverstellte Authentizität seiner Intuition trage Sorge für die nötige Abwechslung und Spannung im Programm, für das Nebeneinander von großen, bekannten Stars der internationalen Szene und weniger bekannten Acts, die häufig aus der Region stammen und dem Publikum Entdeckungen ermöglichen. Diese radikale Subjektivität, die familiäre Nähe, die von der Programmauswahl bis zur Nahrungsversorgung mit dem legendären selbst gebrannten Schnaps des Nachbarn das ganze Festival bestimmt, zieht, so sieht es Zauner, sein Publikum immer wieder auf seinen Bauernhof, jede Beschäftigung mit formalen Konzepten, mit inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, instrumentaler oder geographischer oder stilistischer Art, jede willentliche Zielgruppenansprache würde diese Subjektivität abmildern und in ihrer Konsequenz die stärkste Qualität des Festivals beschädigen: die Authentizität, die sich über alle Generationsschranken hinweg vermittelt. Spezielle Kinderprogramme oder andere Versuche des „audience development“ wären von vornherein zum Scheitern verurteilt. Man kann ja auch niemanden mit Argumenten von der Liebe überzeugen.
So einig sich die Festivalmacher darin waren, ihre Intuition als die wichtigste Ressource ihrer Arbeit zu betrachten, so deutlich unterscheiden sie sich darin, wie sie diese Intuition in ein institutionelles Gefüge einbringen, wie stark sie ihre Verantwortung gegenüber gewachsenen Strukturen empfinden und selbst versuchen, ihre Festivalarbeit strukturell so weit abzusichern, dass die Festivals als Impulsgeber für das gesamte Jazzschaffen in die Region und darüber hinaus wirken können. Preisvergaben, wie sie in Münster oder beim „WDR 3 Jazzfest“ und in diesem Jahr zum ersten Mal auch in Hamburg im Programm stehen, jazzwissenschaftliche Symposien oder vertiefende Vermittlungsangebote, wie bei „enjoy jazz“ sind hierfür die üblichen Mittel. Naturgemäß haben die Organisatoren der größeren Festivals die Verantwortung, mit ihren Festivals auch die Zukunft des Genres über die begrenzte Spanne ihrer persönlichen Beteiligung hinaus mit zu befruchten, stärker im Blick: Bert Nogliks „Jazzfest Berlin“ hat in den bald fünfzig Jahren seines Bestehens immerhin schon einige Wechsel an der Spitze erlebt ohne sich im Wandel untreu zu werden. Gleichzeitig hat das Festival organisatorische Schlacken angesetzt und ist zu dem sprichwörtlichen Tanker geworden, dessen Kurs sich nur in kleinen Schritten, mit klarer Zielsetzung und mit langem Atem verändern lässt. Rainer Kern, der Leiter von „enjoy jazz“oder auch der WDR-Jazzredakteur Bernd Hoffmann, der unter dem Dach seines Senders sein „WDR 3 Jazzfest“ in den kommenden Jahren auf Wanderschaft durch NRW gehen lässt, stehen dagegen stärker im Sturm, beide, der eine im Sender, der andere in den Untiefen der Kommunalpolitik dreier wetteifernder Städte, müssen Allianzen schmieden und sehr genau darauf achten, dass alle an der Festivalveranstaltung beteiligten Instanzen das Festival als einen Erfolg verbuchen, Sektempfänge, Freundeskreistreffen, Arbeitsgruppen machen daher einen notwendigen und umfangreichen Teil ihrer Arbeit aus.
Zwischen all diesen eher organisatorischen Überlegungen war der Vergleich, den der Luzerner Musikwissenschaftler Olivier Senn zwischen den grundverschiedenen Auslegungen von Modaler Improvisation von Miles Davis und John Coltrane als Hauptsolisten in einer und derselben Aufnahme des Standard „If I Were a Bell“ des Miles Davis Quintet im April 1960 in Zürich, für die Tagungsteilnehmer eine willkommene Erholung. Während Davis das modale Spiel zur Grundlage einer radikalen Vereinfachung seiner Improvisationssprache nimmt, sich konsequent auf das Tonmaterial des zugrunde liegenden Modus beschränkt und die Dichte seiner Improvisation zugunsten der Klarheit der melodischen Idee zurück schraubt, überlagert Coltrane die Statik der modalen Harmonie mit einer Kaskade von in regelmäßigen Sprüngen verschobenen Zwischenakkorden, die er hochvirtuos mit „sheets of sound“ umspielt, deren exakter Tonverlauf in der Transkription kaum noch verlässlich zu rekonstruieren ist. Senn macht keinen Hehl daraus, dass sein Vortrag die Grenzzone zwischen Analyse und Spekulation umspielt, eine Region, in der sich der Jazz offenbar wohler fühlt als zumeist seine musikwissenschaftliche Begleitung.
Text: Stefan Hentz
Das Tagungsprogramm
- Stilfragen
Herbert Uhlir im Gespräch mit dem Festivalleiter Bert Noglik - Der kleine Festival-Atlas
Festivalmacher stellen ihre Festivals vor: Paul Zauner, Marcel Roelofs, Fritz Schmücker und Bernd Hoffmann - Kontrastierende Konzepte modaler Improvisation
Oliver Senn über Miles Davis’ und John Coltranes Soli in “If I Were A Bell” (Kongresshaus Zürich, 8. April 1960) - Enjoy Jazz im Gespräch
Fragen an den Festivalmacher Rainer Kern - Marketing Strategien und Festivals
Tina Heine über das Elbjazz Festival