Köln also. Die gar nicht so heimliche Hauptstadt des deutschen Jazz. Das stand am Ende des von Karsten Mützelfeld geleiteten Podiumsgesprächs, das zunächst noch unter dem saloppen Titel „Städtequizz“ firmierte, sich aber als eine sehr präzise Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in den Städten Köln, Berlin, Frankfurt und Hamburg entpuppte. Mit diesem Gespräch endeten zwei Arbeitstage, bei denen die Frage nach dem Verhältnis von Stadt und Jazz, von Förderung und Club-Wirklichkeit im Zentrum von Vorträgen und Diskussionen stand.
Den Anfang machte Rainer Kern vom Enjoy Jazz Festival mit seinen Thesen zu Entwicklungskonzepten der „kreativen Stadt“ mit den Wechselwirkungen zwischen Kulturereignis und sozialer Kommunikation. Kern erläuterte am Beispiel des Festivals, wie sich zwischen den Städten Ludwigshafen, Mannheim und Heidelberg – allesamt Spielstätten von Enjoy Jazz – die alte Publikumsmentalität aufbrechen lässt: Kamen bislang die Besucher eines Konzertes fast ausschließlich aus der jeweiligen Stadtbevölkerung, lässt sich erkennen, dass mittlerweile eine Wanderbewegung des Konzertpublikums zwischen den Städten entstanden ist. Diese Art des Austauschs, diese Form der Publikumsfluktuation ist innerhalb dieses Problemkreise aber nur einer der vielen Wirkungsaspekte, wie das Angebot kultureller Ereignisse auf ein verändertes Sozialverhalten Einfluss nehmen kann. Rainer Kern bezog sich in seinem Vortrag auf verschiedene, einander gegenübergestellte Theorien zum Konzept einer „kreativen Stadt“, d.h. die Rückkoppelungseffekte zwischen einer Kultur bzw. Kulturförderung, sozialen und kommerziellen Interessen.
Einen Einblick in die Wirklichkeit der Jazz-Clubs, ihre finanzielle Situation, die Publikumszusammensetzung, Programmausrichtungen sowie die verschiedenen Organisationsformen lieferte schließlich das von Martin Laurentius moderierte Podiumsgespräch mit Betreibern aus verschiedenen Städten. Mal wieder bestätigte sich, dass der mehr oder weniger erfolgreiche Tagesbetrieb stärker vom Enthusiasmus und dem künstlerischen Horizont des Einzelnen (samt notorischer Selbstausbeutung) abhängt als von einer doch zumeist eher unter bürokratischen Gesichtspunkten organisierten Fördermaßnahme. Dass letztere unverzichtbar ist, um einer Kultur eine zukünftige Entwicklung zu ermöglichen, ist zwar eine Selbstverständlichkeit, doch in der Praxis orientiert sie sich zunehmend an der Idee einer Repräsentationskultur. Mit anderen Worten: Um als Jazz-Club überlebensfähig zu sein, müssen Kompromisse eingegangen werden, die zu etwas führen, was man salopp als „ästhetische Mischkalkulation“ bezeichnen könnte. Da nun der Schwerpunkt auf Organisation, Förderstrukturen etc. lag, rückte die Frage nach der „inhaltlichen Relevanz“, dessen, was in den Clubs geboten wird, in den Hintergrund der Diskussion. Denn hier würde man das Problem berühren, das von Vereinnahmungstendenzen durch einen kommerziell orientierten Kunst- bzw. Kulturbegriff und von einer latenten Konsenshaltung geprägt ist. Jazz, respektive Kultur erscheint immer mehr unter dem Aspekt der Verwertbarkeit, die am Ende des Ereignisses oder der Förderung steht. Wobei der Begriff „Verwertbarkeit“ nicht notwendigerweise ein ökonomischer sein muss. Es reicht, wenn Kultur zur Bestätigung der herrschenden Systemmechanismen dienen darf.
Das heimliche Problem eines von allen elementar subversiven Zeichen gereinigten Kulturbegriffs, wurde dann in Egbert Rühls Vortrag eklatant – quasi ex negativo. Doch bevor man sich mit dem fragwürdigen Begriff „Kreativwirtschaft“ auseinandersetzen durfte, zeichnete Oliver Weindling mit gewohnt heiterer Belehrsamkeit ein Bild des Londoner Stadtteils Soho in den Jahren 1949 bis 1967. Jazz und Jazz-Clubs am Rande der Halbwelt, eigebettet in einen sozialen Rahmen, der sich an den Grenzen von Schicklichkeit und Legalität bewegte. Erstaunlich war nicht nur die schiere Anzahl der Clubs in diesem doch recht überschaubaren Areal, sondern auch die durchlässig, scheinbar so fest gegeneinander verbunkerten Lager der Traditionalisten und der Modernen war. Jenseits von erhellenden Anekdoten (Unterweltgrößen mit einem Faible für Jazz), oder einer seltsamen Reglementierungspraxis für den 1:1-Austausch britischer und amerikanischer Musiker, war die Bewegung zwischen Anverwandlung des „amerikanischen Originals“ und einer eigenständigen Entwicklung, die sich in diesen Jahren bereits zaghaft andeutete. Soho bot so etwas wie einen Frei-Raum, zumal der Jazz dieser Zeit noch einem gewissen Unterhaltungsbedürfnis entsprechen konnte, die Zeichen einer „Hipness“ und „Coolness“ auch intellektuell noch abgesichert waren – auch wenn die dunklen Blüten des Existentialismus nicht unbedingt zu den Eigengewächsen der britischen Kultur gehörten.
Der Strang der historischen Panorama-Zeichnung setzte sich am zweiten Tag mit dem Thema „New York, New York“ fort: Maximilian Hendler und Bernd Hoffmann spürten den Zeugnissen des Jazz zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach. In Bild und Ton. Wobei die Quellenlage gerade im Bereich der frühen Jazzfilme etwas dünn ist. Zu viele der Kurzfilme aus der Frühzeit des Genres sind verschollen. Doch lässt sich anhand der noch vorhandenen eine interessante Kameraführung bzw. Positionierung und Inszenierung einer Jazz-Band feststellen. Wie typisch oder repräsentativ die Untersuchung allerdings ist, muss allerdings offen bleiben. Als zentralen Punkt – in Musik und Film – markierten Hendler und Hoffmann einerseits die Zuschreibungspraxis in „schwarz“ und „weiß“, die weniger auf der Realität als vielmehr auf Mythenbildung basierte. Vor allem aus den Filmbeispielen, den sogenannten „musical shorts“, wurde ersichtlich, wie dann die „Wirklichkeit der Inszenierung“ (über die Perspektive, das Spiel mit der Totalen und der Isolierung des Solisten) die Mythisierung wiederum zu verstärken versuchte.
Im Bereich der aufgezeichneten (oder als Noten verbreiteten) Musik ist das daran erkennbar, dass etwa das Repertoire der Cakewalk-Stücke durchgehend von Weißen komponiert wurde. Maximilian Hendler wies noch einmal darauf hin, dass sich der frühe Jazz New Yorks aus der damaligen populären Unterhaltungsmusik heraus entwickelt habe. Und positioniert ihn in einem Rahmen anderer kultureller Erscheinungsformen, zu dem er eine wechselseitige Beziehung entwickelte. Das allseits beliebte Erklärungsmodell, es handle sich beim Jazz in New York um ein isoliertes Einzelphänomen, um eine direkte Fortsetzung der afrikanischen Kultur (wobei es sich dabei um durchaus unterschiedliche und auch miteinander nicht zu vereinbarende Einzelkulturen handelt) wird anhand zahlreicher Belege verabschiedet. Dennoch sind die inneren und äußeren Bezüge zu komplex um sie mit eindeutigen Kategorisierungsmerkmalen zu versehen: Es kann letztlich auch nur darum gehen, feste Denk- und Theorieschablonen zu relativieren, sich auf ein Feld ständiger Selbstverunsicherung zu begeben: dorthin, wo über das (alte) Wissen ständig neu improvisiert werden muss.
Jazz-Festivals in deutschen Großstädten: ein Phänomen, das man nicht kritisch genug betrachten kann. Sie sind zunächst und vor allem ein ökonomischer Faktor für die jeweilige Stadt: Sie verkommen zum schmückenden Beiwerk oder als Beleg für die ach so großartige Kulturarbeit, die das Tagesgeschäft, den laufenden Club-Betrieb souverän vernachlässigt – mangels „Event-Charakter“. Womit wir es hier zu tun haben, ist eine auf kurzzeitige Medienaufmerksamkeit ausgerichtete Inszenierung, die nicht groß genug, nicht teuer genug sein muss – zur Förderung eigener touristischer Attraktivität. Es sind Veranstaltungen, die nicht aus einer ästhetischen und kultur-ideologischen Notwendigkeit (vulgo: Leidenschaft, Experimentierlust und kulturpolitischem Widerstand) heraus langsam gewachsen sind – wie etwa seinerzeit in Moers. Vielmehr sind sie als ein großer Event geplant, der bitteschön immer noch größer werden soll – und dabei zu einer sich ständig über „Wachstum“ selbstlegitimierenden ästhetischen Leerlaufmaschine wird; derweil die Club-Szene mit dem Überleben zu kämpfen hat.
Just in der Schnittstelle zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Kreativität und Ökonomisierung siedelt die Hamburger „Kreativwirtschaft“, deren Konzept Egbert Rühl vorstellte. Dem Begriff zugrunde liegt zunächst eine Initiative der Bundesregierung. Auf deren Internetseite heißt es: „Ob Architektur, Musik oder Werbung – die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine vielfältige Branche. Ihr gehören sowohl freiberuflich arbeitende Künstler und Kulturschaffende als auch Kleinstunternehmerinnen und -unternehmer wie Kunsthändler, Agenten und Galeristen an. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Branche zu steigern, hat die Bundesregierung im Jahr 2007 die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft gestartet. Koordiniert wird die Initiative vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und dem Beauftragten für Kultur und Medien.“ Daraus erschließt sich bereits, wie sehr bei allen schönen Ansprüchen letztlich die Ökonomisierung kultureller Erscheinungsformen im Vordergrund steht – nicht zuletzt durch eine Gleichsetzung von „Kunst“ und „Werbung“. Und so führte auch Rühl alle elf Bereiche auf, die von der „Kreativwirtschaft“ gefördert werden – darunter auch „Design“ und „Software“. Was also hat frei improvisierte Musik mit der Entwicklung von Computerprogrammen (oder Computerspielen) eigentlich gemein? Die Zuordnung unterschiedlicher Bereiche (im Bundesministeriumssprech „Branchen“ genannt) zur „Kreativwirtschaft“ erfolgt – so Rühl – auf einem „zugrundeliegenden Kreativimpuls“. Eine Formulierung, die alles und nichts aussagt und lediglich ein Unbehagen an dieser Vertopfung des Unvereinbaren in eine „Kreativenbox“ erzeugt. Jenseits dieser Grundtendenz zum ökonomischen Tunnelblick, versucht das Hamburger Modell einer „Kreativwirtschaft“ sich auf vier Betätigungsfeldern zu engagieren. Laut Egbert Rühl bestehen die Aufgaben darin, 1. die Wahrnehmung (auch die Selbstwahrnehmung) zu stärken; 2. sich um Immobilien (Ateliers, Proberäume etc.) zu kümmern; 3. den Zugang zur Finanzierungsmöglichkeiten zu eröffnen; 4. bei der Vernetzung unterschiedlicher Projekte und Beteiligten zu helfen. All diese Formen des Förderns werden, so Rühl, geleistet ohne ein bestimmtes, ökonomisch verwertbares Ergebnis zu erwarten. Es ist nun aber keine Form der Selbstlosigkeit – denn der Mehrwert, auf den spekuliert wird, ist das, was der Referent „immaterielles Kapital“ nennt. Mithin also einen Zuwachs an Attraktivität innerhalb und ausserhalb der Stadt. Die sozio-kulturellen Studien zeigen, wie wichtig kreative Brennpunkte innerhalb eines urbanen Gebildes sind. In wie weit aber nicht-explizite Abhängigkeiten entstehen, wie stark eine Vereinnahmung vorgeblich freier Kunst (wir reden jetzt nicht von Werbung und Software) für wirtschaftliche, soziale und politische Interessen letztlich intendiert ist oder auf einer unterschwelligen Ebene entsteht, wäre der entscheidende Diskussionspunkt. Auch, wie sich der Jazz, eine Musik der Deregulierung, sich innerhalb solcher Strukturen ästhetisch weiterentwickelt. Doch damit rühren wir an einem Problemkreis, der über das Thema der Tagung hinausweist. An der Frage nämlich, welche soziale Relevanz der Jazz in einer Zeit noch besitzt (oder generieren kann), in der jede Form des Nicht-Einverständnisses sofort in den Mainstream integriert, entschärft und kommerzialisiert wird. Müssen wir uns also von der Idee des Jazz als einer widerständigen Musik verabschieden?
Text: Harry Lachner
Das Tagungsprogramm
- Jazz and the City
Rainer Kern: Die kreative Stadt als Entwicklungskonzept - Kulturpolitik für Spielstätten
Diskussionsrunde mit Spielstättenbetreibern über das tägliche Geschäft mit dem Jazz - New York, New York
Maximilian Hendler: Wie klingt diese Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts? - Häuserschluchten in dunklem Urwaldton
Bernd Hoffmann über das Stadtbild im frühen US-amerikanischen Film - Jazz in Soho 1949-1967
Oliver Weindling: A story of sex, race, drugs, art and alcohol in the melting pot of a big city, starring Ronnie Scott, John Dankworth, Chris Barber, Mike Westbrook, Lucian Freud, the Kray Brothers, Dudley Moore and Hymie the Shiv (Over 18s only) - Hamburgs Kreativgesellschaft
Egbert Rühl über Festivalkonzepte für die Stadtgesellschaft - Städtequiz: Die heimliche Hauptstadt des Jazz
Mit Teilnehmern aus Berlin, Köln, Hamburg und Frankfurt