23. Arbeitstagung in Osnabrück (in Zusammenarbeit mit dem Jazzprofil der Hochschule Osnabrück) | 17. und 18. Oktober 2013

Jazz in Europa

Der Ort passte. Ein Diskussionsforum über „Jazz in Europa“ in einer Stadt, in der einst – neben Münster – der Westfälische Friedensvertrag ausgehandelt wurde. Ihm vorausgegangen war ein fünf Jahre dauernder Friedenskongress, daran beteiligt fast alle europäischen Großmächte. Radio jazz research ist (noch) kein die klugen Köpfe großer Teile Europas umschließendes Kompetenzteam, aber immerhin doch ein zunehmend internationales – mit Teilnehmern und Mitgliedern aus Großbritannien, Österreich, der Schweiz und Deutschland. Und auch die Wahl der Tagungsstätte passte: eine Hochschule, mithin eine Institution, die mittlerweile ein Großteil professioneller Jazzmusiker irgendwann durchlaufen haben, gerade in Europa.

Was ist überhaupt „europäischer Jazz“, wenn es nicht einmal eine allgemeingültige Definition des Jazz gibt? Die Eingangsfrage von Stuart Nicholson in seinem Vortrag „An approach to the concept of European Jazz“. „A European, playing jazz“ – so die nüchterne Antwort, ernüchternd allenfalls für die diejenigen, die in allem, was uns an Improvisierter Musik auf diesem Kontinent zu Ohren kommt, etwas „Europäisches“ auszumachen glauben, mit benennbaren Charakteristika wie im Jazz a la Kuba, Südafrika und Brasilien (und auch dort führt ein allzu simples Generalisieren nur auf den Folklore-gesäumten Holzweg). Nicholson ist einer der führenden Wortführer und Fürsprecher regionaler und nationaler Eigenheiten innerhalb Europas jazzmusikalischer Landschaften. Ein für ihn nur allzu natürliches Faktum, nach dem Motto “melody follows mother tongue”. Glocalization in Zeiten der globalisation. Er spricht vom Ende US-amerikanischer Hegemonie, einer Ära, in der Musiker jenseits des Atlantiks als „norm providers“ galten und agierten („from the West to the rest“). Ein „glocalized jazz“ könne sehr wohl eigene norm providers hervorbringen (ein frühes Beispiel etwa lieferte der Pianist Jan Johansson). Überflüssig zu erwähnen, dass Vorstellungen von einem schwedischen „folk jazz“, norwegischen „mountain jazz“, spanischen „flamenco jazz“ oder dem „New Dutch Swing“ nur einen Teil heterogener Szenen abbilden und als pars pro toto die Tür für Klischees und stereotype Erwartungshaltungen öffnen.
Neben „nationalen“ Merkmalen existieren freilich auch regionale Stil-Dialekte. Ein solcher etwa ist der so genannte „Rhine-Style“, ein Begriff, der nicht von der Jazzforschung geprägt wurde, sondern vom englischen Pianisten und Komponisten Django Bates. Was hinter diesem eher beiläufig formulierten Terminus steckt, konkretisierte Bernd Hoffmann und begab sich auf die „Spuren des Rhine-Style“. Damit gemeint ist nicht die Wuppertaler Avantgarde (it „sounds like Whoopataal“), sondern eine historisch eingrenzbare Periode und Spielkultur der Kölner Szene mit ihrer „großen Zeit während des Entstehens und der Blüte des Stadtgartens“. Zu den Merkmalen im Schaffen jener Jazz Haus-Aktivisten und –Protagonisten (Kölner Saxophon Mafia, Norbert Stein, Frank Köllges u.a.) zählt ein ausgeprägter Hang zur Polystilistik, die Betonung des Kompositorischen, das Zitieren aus Pop und Rock, ein unbekümmerter Zugriff auf die Jazz-Historie und die ironische und gelegentlich dadaistische Brechung als Stilmittel.

Dass die aktuelle, junge Kölner Szene sich der Errungenschaften der Vertreter eines vermeintlich spezifisch rheinischen (in diesem Falle: kölschen) „Stils“ bewusst ist, ohne ihn für sich als maßgeblichen Einfluss zu begreifen, belegte stellvertretend Pablo Held. Der Pianist („I don’t play free jazz, I play jazz free“) führte einen verbalen Dialog mit dem Freejazz-Schlagzeuger Paul Lovens (dem später ein nonverbaler Dialog auf der Bühne folgen sollte). Ungeachtet ihres Altersunterschiedes wollten Beide sich nicht als Vertreter „zweier Generationen“ verstanden wissen und fokussierten sich eher auf Gemeinsamkeiten in ihrer Spielhaltung. Angesprochen auf die am Abend anstehende Duo-Premiere (gefolgt von einem Auftritt der Osnabrücker Hochschulband Urban Outreach Combo) betonten sie – erfahren mit den Früchten, die feste Bands mit ihren Langzeitbeziehungen hervorbringen -, dass auch Erstbegegnungen ihren ganz eigenen Reiz haben. Die beste Vorbereitung darauf sei, „sich nicht vorzubereiten“, die völlige Unvorhersagbarkeit des improvisatorischen Geschehens zwinge einen dazu, „besser zuzuhören“. Die Auffassung, dass derartige Rendezvous auch immer die Gefahr des Scheiterns mit sich bringe, konterte Held mit dem Hinweis, jede dieser Spielsituationen sei eine Erfahrung – und somit „immer ein Gewinn“.
Martin Laurentius berichtete über „Jazz in Italien“. Eine Szene, die im Ausland „früher mehr im öffentlichen Bewusstsein präsent“ gewesen sei als heute. Er präsentierte Ergebnisse einer erkenntnisreichen, interessanten und arbeitsintensiven Reise durch bella Italia, war aber durch die zeitliche Beschränkung des Vortrags gezwungen, sich auf einen Teilaspekt zu beschränken, konkret: auf zwei experimentierfreudige Kollektive (El Gallo Rojo und das Instabile Orchestra). Initiativen mit viel Eigeninitiative, die mit ihrem praktizierten Willen nach Selbstbestimmung für einen „kulturpolitischen Gegenentwurf“ stehen, in einem Land, in dem die Folgen von Berlusconis fatalem Wirken in so gut wie allen Bereichen der Gesellschaft zu spüren sind und nicht zuletzt für ein „schwindendes Bewusstsein für aktuelle Kultur“ gesorgt haben. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass mit dem Pianisten Stefano Bollani ein profilierter Jazzmusiker eine eigene Fernsehshow moderiert.
Italienische Musiker gehören auch zu einer immer mehr Szenen und Künstler des Kontinents integrierenden Plattenfirma mit Sitz in München. „ACT – ein europäisches Label“: Unter diesem Motto befragte Thomas Mau den Produzenten Siggi Loch. Schon lange vor der Gründung von ACT hatte er mit europäischen Musikern gearbeitet (Doldinger, Kriegel, Ponty und Gruntz u.a.) und ihre Karriere mit angestoßen. Sein eigenes Jazzlabel weist – allerdings ohne Ausschließlichkeitscharakter – ein ausgesprochen europäisches Profil aus: Bereits die erste Produktion lenkte ein Augen- und Ohrenmerk auf den bis dato nur marginal und klischeehaft berücksichtigten Südwesten des Kontinents, „Jazzpana“: Hier begegneten sich spanische und amerikanische Musiker „auf Augenhöhe“ (vielleicht wäre es einmal an der Zeit, den Begriff „Ohrenhöhe“ in den deutschen Sprachgebrauch einzuführen). Das von Michael Gibbs arrangierte Projekt „Europeana“ erhob die Vielfalt europäischer Klangsprachen gar zum Thema. Alben mit Musikern u.a. aus Schweden, Norwegen, Finnland, Polen, Frankreich und Deutschland präsentieren Kreativkräfte, die eine „andere musikalische Sozialisation“ (als etwa die US-Amerikaner) haben und den kulturellen Humus unbewusst oder eben auch ganz bewusst als Einfluss verarbeiten. ACT hat damit auch in der Öffentlichkeit einen wesentlichen Beitrag zum wachsenden Bewusstsein über das „Europäische im Jazz“ geliefert. Siggi Loch schloss allerdings mit der Bemerkung, er sehe längerfristig „keine Zukunft für Independant Labels“.
Christian Rentschs abschließende Überlegungen zum Funktionswandel von Festivals – plakativ und bewusst provokant mit der Frage „Brauchen wir noch Jazzfestivals?“ überschrieben – begann mit einem historischen Abriss europäischer Großveranstaltungen (wie dem wegbereitenden Pariser Festival in der Salle Pleyel und den Berliner Jazztagen), um dann die Situation in der Schweiz zu analysieren. Während Montreux – auch vom Tourismus-Gedanken angetrieben – den Jazzanteil immer weiter heruntergefahren hat und fast ausnahmslos auf große Stars (auch und gerade aus Pop und Rock) setzt, zeichnet etwa das Festival in Schaffhausen ein Alleinstellungsmerkmal aus, „mit einem Fokus auf Schweizer Jazz-Szene“. Rentsch propagierte in Zeiten immer knapper werdender Kultur-Budgets ein „neues Modell“, das für ihn das „Unerhört“-Festival in Zürich repräsentiert. Die Veranstaltung erschließe u.a. neue Spielstätten (wie etwa ein Altersheim) und verfolge die Funktion, Musiker, Szene und städtische Institutionen stärker miteinander zu vernetzen, „zum gegenseitigen Nutzen“. Die anschließende Diskussion entfachte sich vor allem an Rentschs genereller und allzu generalisierender Kritik am Sponsorentum, an Geldgebern, „die nicht der Leidenschaft, sondern einem Unternehmen verpflichtet“ seien.

Zwei Tage konzentrierter Auseinandersetzung mit dem komplexen Untersuchungsfeld „Jazz in Europa“, ohne jene billigen „that’s where it’s at!“-Arien und Lobeshymnen auf die vermeintlich neue und einzige Heimat jazzmusikalischer Kreativität. Ein Dank von radio jazz research gilt der Hochschule Osnabrück, Gastgeber einer Tagung, die sinnvoller Weise eine Fortführung und weitere Vertiefung des Themas nach sich ziehen wird.

Text: Karsten Mützelfeldt