Jazz in Europa Teil II
Die Fahnenträger der These, dass der Jazz nach Europa umgezogen sei, hatten es nicht leicht bei der Wiedervorlage des Thema „Jazz und Europa“ im Rahmen der 25. Arbeitstagung von Radio Jazz Research im November 2014 in Osnabrück. Nachdem sich Radio Jazz Research bereits im Vorjahr mit dem Jazz in Europa und den unterschiedlichen Bedingungen, unter denen er in verschiedenen europäischen Staaten und Regionen entsteht, befasst hatte, setzte nun schon Hans-Jürgen Linkes Eingangsreferat „Der feine Unterschied – Jazz, Globalisierung und Regionalität“ einen sachlichen Grundton. Zunächst ließ Linke das vermeintliche Gegensatzpaar Globalisierung und Regionalität auf eine Frage der Perspektive schrumpfen, um später in seiner Schlussfolgerung die Begeisterung über den Jazzkontinent Europa auf pragmatische Füße zu stellen: das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen US-amerikanischem und verschiedenen Spielformen des europäischem Jazz macht Linke nicht in stilistischen oder musikalischen Eigenschaften fest, sondern an einem schnöde ökonomischen Hintergrund: der öffentlichen Förderung.
Linke demonstrierte die dialektische Verknüpfung von Regionalität und Globalisierung am Beispiel der Baumwolle, eines Rohstoffs der den Prozess der Globalisierung mit angetrieben hat und als in Nordeuropa nachgefragtes Produkt mithalf den Wirtschaftskreislauf in Gang zu setzen, der die Voraussetzungen für das kulturelle Entwurzelungs- und Vermischungsprodukt Jazz schuf. In Afrika wurden ganze Völker geraubt und als Sklaven nach Amerika verschleppt, wo sie die Plantagenwirtschaft in den US-Südstaaten ermöglichten, die wiederum den Rohstoff für den Aufstieg der britischen Textilindustrie lieferte. Im Lichte dieses Kreislaufs wird der Jazz zur „Folklore des Baumwoll-Imperiums, des Handelskapitalismus, der entwurzelten Menschen, die im Interesse industrieller Arbeit massenhaft versklavt und verschleppt worden waren“. Man könnte, so Linke, den Jazz als die „Folklore einer transzendenten Heimatlosigkeit“ bezeichnen.
Immer wieder bestimmen pragmatische Gründe die Wanderungsmuster des Jazz von urbanem Zentrum zu urbanem Zentrum. Auch auf dem alten Kontinent sucht sich der Jazz zunächst Hafenstädte mit ausgedehnten Vergnügungsvierteln als neue Heimat. Denn während nationale Grenzen für die Verbreitung des Jazz in Europa kaum eine Rolle spielten, spielt Infrastruktur eine große. Jazz benötigt Spielstätten, aktive Musiker, lernbegierigen Nachwuchs und aufnahmefreudiges Publikum, kurz: der Jazz benötigt eine Szene, und die kann sich nur in den verdichteten urbanen Räumen herausbilden. Hier entstehen Netzwerke mit vielen Knotenpunkten, die innerhalb von Städten und ihren Umgebungen funktionieren und städtische Zentren miteinander verbinden. Wer den Regionalisierungen des Jazz auf die Schliche kommen will, so Linke, „muss also über Städte nachdenken und darüber, was sie zu bieten haben. Versorgungswege müssen untersucht werden, Spiel- und Verdienstmöglichkeiten der Musiker, soziale Pfade ihrer Netzwerke. Man muss sich fragen, wie groß die Chancen sind, dass gute Musiker einander begegnen und sich gegenseitig anregen und miteinander arbeiten können. Man muss erforschen, ob sie auf ein Publikum treffen, das an ihrer Musik ein Interesse entwickelt und ob sich dieses Interesse auch für die Musiker auszahlt. Man sieht dann, dass bis heute vor allem große Städte mit international eingebundener wirtschaftlicher Struktur geeignet sind als produktive regionale Basis für die Entwicklung der Musik.“
Der nationale Rahmen spielt dagegen eine untergeordnete Rolle, und wo er das doch tut, wie zum Beispiel in Norwegen, sind es ebenfalls urbane Zentren wie Oslo, Trondheim, Stavanger oder Kristiansand, wo norwegische Steuergelder sehr durchdacht in die Infrastruktur abgezweigt werden. Auch wird nicht vergessen, über den Ausbau der musischen Bildung in den Schulen (was inhaltlich ungefähr das Gegenteil von dem bedeutet, was man in Deutschland unter Musikunterricht versteht) sicher zu stellen, dass der sich stetig verändernde Jazz auch in Zukunft auf ein Publikum trifft, das bereit ist, sich auf ungewohnte Klänge einzulassen. Kein Wunder, dass Norwegen seit Jahrzehnten als Wunderland gilt: Jazz gedeiht eben dort, wo man dafür sorgt, dass Jazzmusiker Nahrung finden.
Genau aus diesem Grund hat sich, erläuterte der mittlerweile in Luxemburg am Aufbau eines Musikexportbüros nach französischem Vorbild und weiteren Möglichkeiten der öffentlichen Förderung der Jazzszene bastelnde Patrice Hourbette in seinem Vortrag über die französische Agence Jazzé Croisé (AJC) gegründet. Vertreter von französischen Jazzfestivals (und mittlerweile auch einigen Musikclubs), waren zu der Überzeugung gelangt, dass der Jazz in Frankreich eine Lobby benötige. Hourbette selbst gehörte damals, vor etwa 25 Jahren, zu den Begründern der AJC, der in Frankreich längst einbezogen wird, wenn der Jazz Gegenstand der Politik und des Regierungshandelns ist. Mit gezielter Förderung und Austauschprogrammen zwischen den beteiligten Festivals verschafft AJC regionalen Bands Präsenz im nationalen Rahmen und manchmal auch darüber hinaus. Zahlen: 69 Mitgliedsfestivals und –Clubs, 80 Konzerte regionaler Bands im Ausland pro Jahr, Austausch mit anderen Ländern (z.B. Italien), jedes Mitglied zahlt mindestens 300-1000 € Mitgliedsgebühr, geschätzter Jahresetat: 400.000 €.
Mit einem Katalog von tendenziell provokanten Fragen, die die Studierenden am Vortag ausgearbeitet hatten, knüpfte das Studierendenforum der Musikhochschule Osnabrück an der allgemeinen Perspektive an. Aus Musikersicht stellten diese Fragen nicht nur das Konzept eines europäischen Jazz zur Disposition. Warum wird überhaupt über den europäischen Jazz diskutiert, wenn man einen solchen zumindest ästhetisch nicht definieren kann? Wem nützt dieser Begriff? Latent klang hier ein Misstrauen durch gegenüber Veranstaltern, Promotern, Publizisten, die das Reden über den europäischen Jazz benutzten, um ihre Veranstaltungen oder Texte besser vermarkten zu können. Kann man den europäischen Jazz als Summe von – durchaus divergenten – Regionalstilen auffassen? Dafür spricht einiges. Interessant ist in dieser Hinsicht jedoch auch die Szene in Luxemburg, die eng mit den urbanen Regionalszenen in Köln, Paris, Amsterdam verbunden ist und einen Querschnitt von europäischen Perspektiven anzapft. Benötigt der europäische Jazz den Begriff Jazz überhaupt noch? Auch wenn Jazz für einen europäischen Musiker einen ganz anderen Bedeutungshorizont öffnet als für einen amerikanischen oder afroamerikanischen, für den Untertöne von Rassismus, Sklavenhalterökonomie und weißem Paternalismus in dem J-Wort mitschwingen, ist das verstaubte Image, das dem Jazz in der deutschen Öffentlichkeit anhaftet, für manchen jungen deutschen Musiker ein Grund, den Begriff gerne los zu werden. Auch, dass man über musikalische Erscheinungsformen notwendigerweise nur retrospektiv sprechen oder schreiben kann, provozierte Fragezeichen.
Andreas Felber untersuchte in seinem Referat „Koller statt Coltrane: Die europäische Jazztradition als Referenzfeld für Improvisationsmusikerinnen“ anhand dreier Beispiele aus Schweden, Österreich und den USA, wie junge (nicht nur) europäische Musiker sich in ihrer Arbeit direkt auf musikalische Vorlagen von europäischen Musikern berufen, die damit sozusagen zum Klassiker geadelt werden, dessen Kompositionen über hinreichend Substanz verfügen, dass sie zum lohnenden Ausgangspunkt der eigenen, gegenwärtigen Improvisation taugen. Die Verfahren der Anverwandlung können dabei verschiedenster Art sein. Während das schwedische Quintett „Swedish Azz“ um den Saxofonisten Mats Gustafsson, den Tubaspieler Per-Åke Holmlander und den aus Österreich stammenden Turntabelist Dieb 13 alias Dieter Kovacic mit ihrer in Vinyl veröffentlichten 11-Zoll-LP „Jazz på Svenska“ einerseits den Titel einer Sammlung von Volksliebearbeitungen durch den Pianisten Jan Johansson und den Bassisten Georg Riedel benutzt, die nach ihrem Erscheinen im Jahr 1964 zum größten Hit wurde, den der Jazz aus Schweden je hatte. Andererseits benutzte „Swedish Azz“ ausschließlich Kompositionen zweier anderer Gründungsväter des schwedischen Jazz, des Baritonsaxofonisten Lars Gullin und des Pianisten Lars Werner, die sie in mehrfacher Brechung umsetzten. Einerseits hält Dieb 13 den Originalton der Aufnahme präsent, andererseits lagern Holmlander und Gustafsson ihren eigenen Ton an den konservierten Ton an, halten sich an das formale und tonale Gerüst der Komposition, führen Linien weiter, und brechen sie mit ihrer am Free Jazz geschulten Improvisationssprache in neue Dimensionen. Klassischer präsentiert Felber die Beschäftigung jüngerer österreichischer Musiker mit der Musik des Saxofonisten Hans Koller, der nach dem Tod des Saxofonisten im Jahr 2003 wieder verstärkt Aufmerksamkeit entgegen gebracht wurde. Am Beispiel von „Hitze-Koller“, einer Komposition der Wiener Altsaxofonistin Viola Falb für ihr Quartetts Falb Fiction, in dem Viola Falb mit Koller-artigen Stilmitteln wie dem fließenden Übergang von komponierten in improvisierte Linien, der Entwicklung von Riffs als Grundlage für die Improvisation und einem kammermusikalischen Gruppengestus dem Pionier des Jazz in Österreich ihre Reverenz erweist. Und dass diese Bezugnahme auf die Musik europäischer Musiker kein auf Europa beschränktes Phänomen ist, demonstrierte Felber mit seinem dritten Fallbeispiel, der Einspielung von Albert Mangelsdorffs Komposition „Wheat Song“ von dem Album „Joe Fiedler Trio Plays The Music of Albert Mangelsdorff“. Als sich der Posaunist Fiedler mit der Technik des mehrstimmigen Spiels befasste, zu deren Entwicklung Mangelsdorff maßgeblich beteiligt war, war er fasziniert von der Schönheit und Vielfalt der Kompositionen des Frankfurter Posaunisten, von dem man in den USA wenig zu hören bekommt. Als ein Wiederentdecker, der seinem Publikum nun die Musik Mangelsdorffs vorstellt, hält sich Fiedler nah an die komponierten Vorgaben und nutzt sie – so wie es im Jazz seit jeher mit den Kompositionen von Fats Waller, Duke Ellington oder Thelonious Monk üblich ist – als Vehikel, für seine eigenen Improvisationen.
Im Programmheft zu dem Konzertabend „Negro Music – From Its Raw Beginnings to The Latest Jazz“ am 23. Dezember 1938 in der Carnegie-Hall in New York, das der schwarzen Musik ein völlig neues Publikum erschloss, hatte der Historiker Lewis A. Ehrenberg aus Chicago geschrieben: „Trotz Armut und Rassismus aber hätten die Künstler eine Musik des Protests und der Freiheit geschafften und signalisiere ihr Auftritt in der Carnegie Hall die Hoffnung auf eine demokratischere amerikanische Musikkultur.“ „Eine Musik des Protests und der Freiheit“, die „Hoffnung auf eine demokratischere“ Musikkultur – der Mythos, dass Jazz grundsätzlich politisch „links“ zu hören sei, war in der Welt. John Hammond, Spross einer weißen Patrizierfamilie mit Generälen und der Industriellen-Dynastie Vanderbilt im Stammbaum, und von Bessy Smith bis hin zu Bob Dylan einer der wichtigsten Musik-Promoter und –Scouts des letzten Jahrhunderts, der das Konzert angeregt und organisiert hatte, verstand sein Engagement für Jazz und Blues und die schwarze Musik im Allgemeinen selbst im Kontext der schwarzen Bürgerrechts-Bewegung und ihres Kampfes für Gleichberechtigung und gegen Rassismus. An der Schwelle zu den 1960er-Jahren traten auch zunehmend Musiker an die Rampe und bezogen mit Titeln für einzelne Kompositionen oder ganze Alben deutlich Stellung: Max Roachs und Abbey Lincolns „Freedom Now Suite“ und ähnliche. Manche ließen sich auch in Interviews nicht lange bitten, wenn es darum ging, in einem verbalen Statement ihre politischen Haltungen deutlich auszudrücken, die französischen Autoren Philippe Carles und Jean-Louis Comolli veröffentlichten ein viel beachtetes Buch, das schon im Titel den Free Jazz und Black Power miteinander verklammerte.
Tobias Richtsteig ging in seinem Vortrag „Die politische Identität von Jazzszenen“ der Frage nach, ob und gegebenenfalls wie sich diese politische Parteinahme in die europäische Gegenwart übertragen lässt. Dabei wäre zunächst einmal zu klären, was eine „Jazzszene“ eigentlich ist. Richtsteig beruft sich dabei auf den Kultursoziologen Gerhard Schulze, der vor allem das Publikum als „Erlebnisnachfrager“ ins Zentrum von Szenen rückt, die er wiederum als Orte beschreibt, wo „vereinzelte Kollektiverlebnisse, die einander ähnlich sind, gebündelt“ werden. „Eine Szene vermittelt den Erlebnisnachfragern immer wieder ähnliche Botschaften und verstärkt minimale soziale Wirkungstendenzen, die in der Zugehörigkeit zu einem einzelnen Publikum angelegt sind. Auf die Erlebniskonsumenten wirkt eine Szene wie ein Durchlauferhitzer. Die soziologische Bedeutung von Szenen lässt sich in vier Punkten zusammenfassen: Entstehung von alltagsästhetischen Schemata, von sozialen Milieus, von Wirklichkeitsmodellen und von asymmetrischen Milieuwahrnehmungen.“
Tatsächlich ist die Mentalität des Jazz-Publikums schon seit langem Gegenstand von empirischen Untersuchungen: 1978 legten Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk ihre Studie „Das Jazzpublikum. Zur Sozialpsychologie einer kulturellen Minderheit“ vor, ein gutes Jahrzehnt später knüpfte Fritz Schmücker mit einer vergleichbaren Studie an, und Tobias Richtsteig selbst versuchte eine weitere Dekade später, über das Internet die Datenbasis zu vergrößern. Alle drei Untersuchungen können nur Selbsteinschätzungen benennen, und kommen letztlich zu ähnlichen Ergebnissen. Richtsteig: „Ich fand in den Ergebnissen lediglich bestätigt ‚was man schon länger vom Jazzpublikum vermutete: Die Hörer des Jazz sind hoch gebildet, verstehen ihre musikalische Präferenz eher als Element eines Hochkultur-Schemas und bedienen sich der damit verbundenen kulturellen „Legitimität“ des Jazz als Kennzeichen der eigenen Distinktion.’’ Möglicherweise lassen sich die feinen Akzentverschiebungen zwischen den verschiedenen Erhebungen mit einem Trend zu konservativeren Lebensformen in den letzten Jahr(zehnt)en parallel setzen, den die Soziologin Claudia Koppetsch kürzlich in einem Interview in der ZEIT ansprach. „Es gibt eine Sehnsucht nach konservativeren Werten, die auch die urbane Boheme ergriffen hat. Dieselben Milieus, die einmal mit alternativen Lebensentwürfen experimentierten, konzentrieren sich heute auf Absicherung, Statuserhalt und Angleichung an die vorgegebenen Strukturen.“
So lange man die Frage nach dem politischen Gehalt von Jazz (oder auch Musik im Allgemeinen) losgelöst stellt von den Umständen, in denen die Musik gespielt wird, so kann ihr politischer Charakter, ihre „Aussage“ wie Andreas Felber nur als von außen angeheftete Projektion wahrgenommen werden: „Musik ist aussagefrei“, so Felber. Arne Schumacher milderte diese Position etwas ab, mir erscheint manchmal „das am politischsten, was gleichzeitig am zurückgenommensten“ wirkt und deutet damit eine Dialektik der politisch zurückgenommenen und damit besonders brisanten autonomen Kunst an, die direkt an Positionen anschließt, wie sie Adorno in Bezug auf ästhetische Bereiche postulierte, von denen er etwas verstand (also nicht Jazz).
Und im gleichen Zeitraum, wo sich immer weitere Teile der Öffentlichkeit in die Schneckenhäuser des Privaten zurückziehen, wird der Jazz aus der Publizistik im Parallelschritt zu dem immer höheren Ausbildungsstand der Musiker und dem im Jazz nachlassenden Zuordnungsmacht der Hautfarbe, wird der Jazz immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe seine „gesellschaftliche Relevanz“ verloren. Ein Totschlags-Vorwurf, der auf keine andere Kunstgattung bezogen wird und schon deshalb nicht zu entkräften ist, weil nie geklärt wird, worin die gesellschaftliche Relevanz denn nun bestehe, über die Hautfarbe und das lächerliche Klischee hinaus, dass der arme Poet besonders authentische Gedichte schreibe.
Offen bleibt bei aller empirischen Durchleuchtung des Publikums, was Musiker von solchen Überlegungen zum politischen Charakter ihrer Musik halten. Da half es bei der RJR-Tagung schon ein Stück weiter, dass mit Julia Hülsmann und Lorenz Raab zwei leibhaftige Musiker anwesend waren, die jeden Versuch, sie politisch zu vereinnahmen, weit von sich wiesen. Auch wenn sie sich wie Julia Hülsmann in den letzten Jahren verstärkt verbandspolitisch für den Jazz engagierten, sei Ihr Interesse eigentlich ästhetisch geleitet, von musikalischen Kriterien bestimmt. Und wie mit der Politik, so geht es ihnen auch mit dem Begriff Europa: total unwichtig. Erst als sie verstärkt unterrichtet, erzählt Julia Hülsmann, habe sie sich eingehender befragt, was sie eigentlich als ihre starken Prägungen empfindet, und in welchem Verhältnis sie zu dem stehen, was zu unterrichten in Deutschland üblich ist. „Ich glaube, die Wichtigkeit des Curriculums wird maßlos überschätzt.“ Wichtiger sind die Impulse von Musikern, die als Menschen inspirierend wirken, Musikern wie John Taylor, der als sie ihm von ihren Problemen mit den Rhythm Changes erzählte, kurzerhand vorschlug: „Dann spiel sie doch einfach nicht. Mach was anderes.“ So lehrt man Freiheit. Hülsmann sieht sich „klar als europäische Musikerin“, verweist auf einen ziemlich vollen Topf mit ganz viel Klassik und auch Volksmusik, und führt die Tatsache, dass sie nie in ihrem Leben 200 Standards habe auswendig spielen können, als Beleg an.
Weg von dem europäisch-amerikanischen Spiegelkabinett und zurück zum Eigentlichen, zur Kunst der Improvisation führt die Forschungsarbeit, die der niederländische Musikforscher Iwan Wopereis vorstellte. „What Makes a Good Musical Improviser?“, erhebt die Einstellungen einer Gruppe von professionellen Improvisatoren, die unterteilt war in professionelle „Expert-Improvisors“ und herausragende „Elite-Improvisors“, zu der zentralen Frage der Bewertung improvisierter Musik. Mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung sortiert die Studie die Ergebnisse der Befragung von 169 Experten anhand einer Landkarte von sieben Clustern mit Titeln wie „Ideal“, „Affect“, Risk-Taking“, „Self-Regulation“, „Creation“, „Responsitivity“ und „Basic Skills“. Im Resultat war die höchstbewertete Eigenschaft gelungener Improvisation in der Fähigkeit der Selbstregulierung zu finden. Interessant ist weiterhin, dass es zwischen Expert und Elite-Improvisors signifikante Unterschiede gibt in der Art, wie sie ihr Musikstudium organisierten. Während Musiker beider Gruppen häufig mit dem Curriculum unzufrieden waren, waren es die späteren Elite-Improvisers, die häufiger einen eigenen Bildungsplan erstellten und verstärkt daran arbeiteten, neben dem Erwerb der geforderten Fertigkeiten noch eigene (Forschungs-)Projekte zu verfolgen. Einfaches Fazit: je stärker ein Musiker in seiner Musik Freiheit sucht, desto eher wird er sie finden. Ob in Europa oder Amerika oder andernorts.
Text: Stefan Hentz