26. Arbeitstagung in Münster (in Zusammenarbeit mit dem internationalen Jazzfestival Münster) | 8. und 9. Januar 2015

Korrespondenzen

Korrespondenzen, so lautete der Titel der 26. Arbeitstagung der AG RadioJazzResearch am 8./9. Januar 2015 in Münster, und mit dem Titel war schon einmal ein sehr weiter Themenrahmen abgesteckt. Korrespondenzen, das ist im strengen wörtlichen Sinn ein zumindest bidirektionales Austauschverhältnis im Sinn wechselseitiger Beantwortung im Bereich der interpersonellen Kommunikation. Allerdings hat sich der strenge Sinn seit langem verflüssigt, so dass Korrespondenten in Publikationen schon längst eine Kommunikation ohne Rückkanal aufgebaut haben oder der Begriff der Korrespondenz im mathematischen und Bereich der jüngeren Naturwissenschaften zur Beschreibung von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen verschiedenen (und verschieden alten) Theoriebildungen genutzt wird. Angesichts dieser Verflüssigungen des Begriffes „Korrespondenzen“ ist es wenig erstaunlich, dass auch die Ausfüllungen des Begriffes im Verlauf der Tagung starken Schwankungen unterlag.

Die Berliner Jazz-Publizistin und Tanzwissenschaftlerin Franziska Buhre fasste ihr Thema „Jazz & Tanz“ im ersten Vortrag der Tagung im Sinne eines Nachweises der Einflüsse, die der Jazz als sozusagen Korrespondent auf den sich parallel entwickelnden modernen Bühnentanz des 20. Jahrhunderts hatte, der in ihrem historiographischen Blick strikt als Empfänger gesehen wird. Dabei reicht der Entwicklungsbogen von der naserümpfenden Verachtung, die ikonische Vertreter des Bühnentanzes wie Isadora Duncan oder Anna Pawlowa, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrem „Sterbenden Schwan“ in Strawinskys „Feuervogel“ berühmt wurde, für den Jazz übrig hatten. Korrespondenzen zwischen Jazz und Tanz? Zu dieser Musik, zu der allenfalls gewalttätige Verrenkungen möglich seien? So war die Reaktion der modernen Bühnentänzer zu Beginn des Jahrhunderts, prall voll mit künstlerischem Standesdünkel und der Ablehnung all jener Durchmischungen von jung und alt, arm und reich, schwarz und weiß, Sinn und Sex, die die moderne Gesellschaft von der vergangenen (oder zumindest im Prozess des Vergehens sich befindenden) ständischen unterscheiden. Bezeichnend ist hier ein Zitat, in dem Pawlowa schildert, wie sie sich einmal im Schutze der Anonymität von der entgrenzenden Ausgelassenheit des Foxtrot habe mitreißen lassen. Sobald sie sich der Verpflichtung, die etablierten Hierarchien aufrecht zu erhalten, enthebt, ist offenbar auch die fanatische Kämpferin gegen den Einbruch „dieser hässlichen Tänze“ dazu in der Lage, ihre Sinne auf die radikale Gegenwärtigkeit und das Erleben der Vergemeinschaftung im Moment einer radikalen Individualisierung einzustellen.

Auf einem Nebengleis ihres Vortrags wies Buhre den immanenten Rassismus der Jazzrezeption im Diskurs über den Bühnentanz nach, der von Anfang an auch zu den Daseinsbedingungen des Jazz zählte. Gleichzeitig verortete sie einen großen Einfluss des Jazz auf den Tanz, als Schlüssel zur Selbstreflexion der Kunstgattung. Während beim Bühnentanz euro-amerikanischer Prägung die eigene Geschichtlichkeit tendenziell ausgeblendet oder gar geleugnet wird, so Buhre, „sind von Jazz inspirierte oder begleitete Choreografien eher als Antwortgeschehnisse auf vorherige Tanz- und Musiktraditionen zu begreifen“.

Im Versuch mit seinem Vortrag „Jazz & Film“ über „die komplexe Liebesgeschichte zweier Zeitkünste“ eine tiefere Ebene als die unmittelbare, oberflächliche Evidenz anzusteuern, wählte der Kieler Filmwissenschaftler Willem Strank einen exklusiveren Begriff von Korrespondenz und suchte nach Gemeinsamkeiten oder wechselseitigen Beeinflussungen zwischen den beiden Kunstformen auf der Ebene der Erzählstrukturen. Das ist jedoch nicht einfach, denn jenseits der Evidenz, dass in manchen Filmen Jazz zu hören ist und in anderen Filmen Musik aus einem anderen stilistischen Umfeld, ist tiefenstrukturell und dramaturgisch kein Unterschied zwischen einem Biopic über einen Jazzmusiker und demjenigen über einen klassischen Musiker festzumachen. Möglicherweise leistet jedoch die Beobachtung, dass Jazzmusikalische Wendungen die nahezu notwendig zu Häppchen zerstückelte Form von Musikdarstellung im Film weniger zerstört überstehen als beispielsweise Splitter aus einem symphonischen Werk, einen Beitrag zur Erklärung des relativen häufigen Auftretens von Jazzklängen in der Soundspur von Filmen.

Anhand von zwei sehr unterschiedlichen Filmen formuliert Strank seine eher skeptische Sicht, was die Durchlässigkeit des Mediums Film für strukturelle Vorgehensweisen des Jazz angeht. „Short and Suite“ eine zeichnerisch abstrakten Spielerei von Norman McLaren und Evelyn Lambart aus dem Jahr 1959, entwickelt zu einer Soundspur im Klanggewand des Cool Jazz eine parallele Evolutionsgeschichte vom Punkt über Notenformen und Strichmännchen hin zu kompletten Notensystemen bzw. zur Mann-Frau-Kind-Familie. Am entgegengesetzten Ende des musikalischen Avantgardespektrums siedelt der Dokumentarfilm „Aber das Wort Hund bellt ja nicht“ über das Schlippenbach-Trio, in dem der Filmemacher Bernd Schoch seine Mitschnitte aus Konzerten des Trios mit Naturaufnahmen in Schwarzweiß gegenschneidet. Beide Filme landen mit ihren Bildstrategien wieder bei stereotypen Darstellungen des Jazz. Gegenseitige Hinterfragung findet nicht statt.

Stranks kühle Beobachtung, dass allen Beteuerungen von Regisseuren wie beispielsweise John Cassavetes zum Trotz die Improvisation als das markante Merkmal des Jazz in der arbeitsteilig zerstückelten, extrem durchgeplanten Herstellungsweise von Filmen keine Entsprechung findet, führt letztlich zu einem ernüchterten Schluss. „Die häufige Wiederholung von relativ kurzen Takes, der anschließende Filmschnitt und die zahlreichen Bearbeitungen durch eine Vielzahl von Entscheidungsträgern relativieren den ursprünglichen Charakter der Musik zu einer konservierten Improvisationsinsel in einem formal starren Ganzen. Sieht man die Improvisation als einen der Wesenszüge des Jazz, so ist er mit dem Film in dieser Hinsicht vollständig inkompatibel.“

Ähnlich wie im Film, verwenden auch Hörspielproduzenten in ihren Produktionen häufig Jazz, entweder aus der Konserve oder indem sie Jazzmusiker zur direkten Mitarbeit anregen. Hörspiele, so klärte die Bremer Autorin Eva Garthe im Eingang ihres Referats „Jazz & Hörspiel“ über Korrespondenzen zwischen zwei akustischen Künsten den Begriff, „sind akustische dramatisierte Inszenierungen von Geschichten mit verteilten Sprecherrollen, Geräuschen und Musik“. Hörspiele, so argumentierte sie weiter, seien die „radiophonste Kunst“ überhaupt und somit die „Königsdisziplin des Radios“. Kurz referierte sie die Geschichte des Genres seit den ersten Vertonungen von Theaterstücken im Jahr 1918 über den Hörspiel-Boom in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich rund 500 gesendeten Hörspielen im Bereich der ARD. Während Musik im Hörspiel lange auf dienende Funktionen beschränkt blieb, nimmt sie im Verlauf der Jahrzehnte eine immer wichtigere Funktion wahr, und während sie in die Rolle einer gleichwertigen weiteren Sinn schaffenden Instanz neben dem Text hinein wuchs, stieg der Anteil von avantgardistischen Positionen (sowohl aus der Neuen wie auch aus der Improvisierten Musik) in der Hörspielmusik. Wichtigste Produzenten der teuren Hörspiele sind öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die in den letzten beiden Jahrzehnten ihre Produktionen deutlich zurück gefahren haben, mit der Konsequenz für die zahlreichen an solchen Produktionen beteiligten Musiker, dass eine weitere Einkommensquelle immer spärlicher sprudelt.

Der Blick auf die schnöde Realität der abbröckelnden Einkommensquellen schuf den perfekten Übergang zu „Jazz & Verantwortung“, dem Referat, mit dem Peter Ortmann als Vertreter der Union Deutscher Jazzmusiker (die zu den Auftraggebern der Studie zählt) über den Vorlauf einer umfangreichen Studie berichtete, die bis November 2015 die unter Federführung des Institut für Kulturpolitik an der Uni Hildesheim in Kooperation mit dem Jazzinstitut Darmstadt die soziale Situation von Jazzmusikerinnen und Jazzmusikern in Deutschland untersuchen soll. Über die soziale Situation von JazzmusikerInnen gibt es bisher keine gesonderten Untersuchungen, was bisher die Interessenvertretung gegenüber Vertretern der Politik oder der verschiedenen Verwaltungskörperschaften in Bund und Ländern erheblich hemmt. Nach Angaben der Künstlersozialkasse liegt das durchschnittliche Jahresseinkommen von frei schaffenden Musikern quer durch alle Genres lag im Jahr 2014 bei 12.000 Euro (bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 19.000 Euro in D), was bedeutet, dass ein großer Teil dieser Musiker unter der Armutsgrenze (11.000 €) liegen wird und nur sehr wenige MusikerInnen jenseits der festen Anstellungsverhältnisse in wirtschaftlichen Verhältnissen jenseits des Prekariats leben. Altersarmut ist in vielen Fällen vorprogrammiert, Probleme mit Renten- und Krankenversicherung sind abzusehen. Bei JazzmusikerInnen, soviel ist gewiss, kann das nicht besser aussehen.

Im Wintersemester studierten 1265 Studierende an 17 deutschen Hochschulen Jazz oder Popularmusik, Tendenz: stärker steigend als in anderen Fakultäten. Entsprechend hoch ist die Zahl der Absolventen. Die geplante Studie soll nun gesicherte Daten über die Arbeits- und Lebensbedingungen von professionellen JazzmusikerInnen in Deutschland erheben, um so die weitere Lobbyarbeit in diesem Bereich auf eine solide Datenbasis zu stellen. Nur so lässt sich überhaupt der tatsächliche Bedarf an Unterstützungsmaßnahmen und Fördermitteln beziffern und gegenüber landes- und bundespolitischen Institutionen vertreten.

Der Labeleigner (intuition) und Musikproduzent Volker Dueck befasste sich in „Jazz & Recorded Music“, seinem Vortrag über das Konservieren des Flüchtigen mit den Konsequenzen des sich ständige beschleunigenden medialen Wandels auf die Möglichkeiten, mit der Frage nach dem Gebrauchswert von Musik. Als Illustration für das Tempo des Wandels griff er auf seine eigene Biographie zurück. Als 60-Jähriger hatte er in seiner Kindheit noch direkten Zugriff auf Schellack-Platten erlebte den schnellen Reigen von Tonbändern und Musik-Kassetten, Compact Disc und DAT-Recorder, MP3 und Streaming-Plattformen. Als Jazz-Produzent andererseits ist ihm der Gedanke vertraut, dass das, was zu hören ist nicht nur die konkrete Hervorbringung einer abstrakten Idee von Musik ist, wie es näherungsweise die Aufführung einer Komposition ist, sondern dass die Musik sehr stark mit den mehr oder weniger zufälligen Eigenschaften des Zeitpunktes ihrer Aufführung verknüpft ist. Weil diese Eigenschaften in der Tonaufzeichnung aber zumindest in Teilen verloren gehen, ist ein Jazzlabel daher gezwungen, seine Produkte in mehrfacher Hinsicht affektiv aufzuladen, durch die Gestaltung des Gruppensounds, des Produktdesigns, durch eine Repertoiregestaltung, die auf eine Verwurzelung in bestimmte Regionen anspielt oder auch, indem es sich durch den Einsatz von Drittmitteln finanzielle Spielräume öffnet. Möglicherweise liegt gerade in Letzterem die Zukunft des Jazz als Gegenstand der Tonaufzeichnung: als eine Form von künstlerisch motivierter Musik, die sich nur auf begrenztes kommerzielles Potential stützen kann, könnte im Anzapfen von Geldquellen, für die Rendite allenfalls eine Nebensache ist, der letzte Anker sein.

Der in Wien forschende Soziologe Martin Niederauer versuchte in seinem Referat „Jazz & Gesellschaft“, eine Wahrnehmung des Jazz im Geist der Kritischen Theorie aber gegen die Borniertheit von Theodor W. Adorno zu rekonstruieren. Niederauer geht es dabei darum, „Gegenstände daraufhin zu befragen, was Autonomie fördernde Momente und was repressive Momente sind, aber auch: Wo bilden sich in den Autonomie fördernden Momenten wiederum Repressionen aus, verlängern sich Repressionen oder nehmen vielleicht auch Züge neuer Herrschaft an?“ Es geht also um die Wiederbelebung der Dialektik aus einer gegenwärtigen Position heraus. Ansatzpunkt dieses Blicks ist die Warenförmigkeit kulturellere Produkte, die wiederum den Charakter dieser Produkte verändert. In anderen Worten, letztendlich findet Niederauer in der Improvisation eine ästhetische Chance, sich den Mechanismen der Verdinglichung entgegenzustellen bzw. zumindest zu entziehen: als Produkt des Momentes entzieht sich die Improvisation der Reproduzierbarkeit, was Niederauer parallel setzt mit Ted Gioias Konzept vom Jazz als einer Kunst des Nichtperfekten, Unabgeschlossenen. Dies wiederum lässt sich lesen als die Ablehnung der in der Warenwirtschaft vorherrschenden Anrufung des Perfekten und Makellosen. Den anschließenden Schritt illustriert Niederauer mit dem Beispiel eines improvisierenden Quartetts, in dem alle Beteiligten permanent ihre Sensoren auf das richten, was die anderen an der Improvisation Beteiligten gerade tun. Jeder erstellt innerlich sozusagen Querschnitte des aktuellen Geschehens und hat simultan die Möglichkeit, es durch seine eigene Aktion zu prägen. Dadurch werden Hierarchien zwischen Zentren und Peripherien der Handlung außer Kraft gesetzt und auch die Vorstellung einer übergreifenden Regelwerks, dem sich alle letztlich zu unterwerfen hätten, ausgehebelt. Individualität funktioniert in diesem Denkmodell nicht als monadisch isolierte Einheit, sondern als ein Konstrukt aus vielen verschiedenen verwobenen Beziehungen. In einer gelungenen Jazzimprovisation, argumentiert Niederauer, werden „Situationen arrangiert, in denen schematisierte Verfahren gar nicht funktionieren. Das heißt die Improvisatorinnen und Improvisatoren unterliegen keiner Typisierung und auch keiner Reduktion auf Träger sozialer Eigenschaften, sondern sie können sich punktuell als mündige Subjekte in einer egalitär ausgerichteten Gruppe konstituieren“. Dass dies nur eine Frage von Momenten sein kann, räumt Niederauer dabei ebenso ein, wie dass diese Momente flüchtig sind, und dass die gleichen Eigenschaften der Improvisation, die sie ermöglichen, durchaus auch das Potential in sich tragen, wiederum in hierarchische Strukturen umzuschlagen, wenn etwa die Interaktion zwischen den Musikern in einen Wettstreit um die virtuosere, eloquentere, mitreißendere Formulierung ausartet. Der Versuch, in der Improvisation als solcher ein Moment zu erkennen, das eine politische, sozusagen demokratische  Dimension in sich birgt, stieß auf einigen Widerspruch. Einerseits wurde die Frage angespielt, ob eine solche Analogiesetzung zwischen musikalischem und politischem Handeln der Musik nicht völlig äußerlich bleibe, eine feuilletonistische Perspektive. Und ob ein solches kritisches Potential der Musik überhaupt einen Adressaten habe. Niederauer hielt dem entgegen, dass es nötig sei, zwischen der soziologischen und der politischen Verwendung des Begriffes „Kritik“ zu unterscheiden, in seiner – soziologischen – Darstellung gehe es weder um bewusst geäußerte Kritik noch um ihre Wirksamkeit sondern um ein Potential, das sich in der Dynamik des musikalischen Momentes entfalte.

Nach dieser angeregten Debatte führte das anschließende Referat „Jazz & Kulturpolitik“ das Heinrich Lakämper-Lührs, Programmleiter im Fachbereich Kultur und Sport der Stadt Gütersloh den Fokus zurück auf die Niederungen und Sachzwänge, denen sich kommunale Kulturpolitik ausgesetzt sieht, wenn sie sich die Entwicklung eines Profils im Bereich Jazz auf die Fahnen geschrieben hat. Nachdem sich Gütersloh in den letzten Jahrzehnten mit sehr prägnanten Jazz-Veranstaltungen einen Status erworben hat, als eine Stadt, die Jazzmusiker mit großer Neugier und Offenheit empfängt und im letzten Jahr mit großem Erfolg bei den Bürgern, der auch überregionalen Presse und den engagierten Musikern das WDR 3 Jazzfest zu Gast hatte, arbeitet Lakämper-Lührs nun daran, der Offenheit der Stadt für diese Kunstform eine verlässliche  Struktur zu geben. Gesichert ist zunächst die Veranstaltung von jährlich acht Konzerten mit überregionalen Künstlern unter der Fahne der seit langem gut eingeführten Veranstaltungsreihe „Jazz in Gütersloh“, und die Konzepte, die Lakämper-Lührs vorstellte sehen vor, den Veranstaltungsreigen in einer weiteren Kooperation mit dem WDR und mit der Jazz-Publikation Jazzthing und dem Label intuition um die Reihe „European Jazz Legends“ mit fünf weiteren Veranstaltungen im Jahr 2015 zu ergänzen. Als nächste Ausbaustufe ist angepeilt, Gütersloh ab 2017 zu dem Ort zu machen, wo das WDR 3 Jazzfest fortan seine feste Heimat hat. Voraussetzung für diese Pläne ist, dass sich die Resonanz auf die Jazzveranstaltungen in Gütersloh weiterhin positiv entwickelt, wie Lakämper-Lührs, das für das Jazzfest 2014 darstellte. Letztendlich muss er als Akteur der örtlichen Kommunalpolitik dafür kämpfen und sorgen, dass in Gütersloh die Überzeugung herrscht, dass die Verknüpfung der Stadt mit dem Jazz, die Lebensgefühl der Bürger der Stadt hebt, einmal als ein hochkarätiges kulturelles Ereignis, das zum zweiten die Stadt in der Dichotomie  „Kaff oder Kosmos“ auf der richtigen Seite verortet, und zum dritten hilft es auch, die Akzeptanz für den Jazz zu steigern, wenn das Engagement für die Musik sich über Umwege, beispielsweise über eine bessere Auslastung der Hotellerie und Gastronomie und andere Geschäftszweige an der Peripherie des Festivals auch wirtschaftlich auszahlt.

Um die Tagung mit einem musikästhetischen Akzent abzurunden, gab der Wiener Musikpublizist Reinhard Kager in seinem Vortrag „Jazz & Neue Musik“ einen Überblick über kompositorische Konzepte Neuer Musik im Kontext experimenteller Improvisationen. Sein Schwerpunkt waren dabei die hybriden Experimente, in denen „kompositorische Prinzipien der Moderne unter Wahrung improvisatorischer Momente mit dem Jazz amalgamiert werden“. Zwei Komponenten von Gunther Schullers Idee eines „Third Stream“ bildeten den Ausgangspunkt: die unerlässliche Integration des Improvisatorischen und die Durchlässigkeit nach beiden Seiten. Während die Integration avancierter kompositorischer Ideen in den Jazz mit Namen wie Stan Kenton, Ran Blake, Carla Bley oder Henry Threadgill verbunden sind und schon in den 1950er-Jahren zu den gängigen Verfahren zählten, öffnete sich gut ein Jahrzehnt später auch auf der Seite der Neuen Musik ein Fenster, das in europäischen Kunstmusik ohnehin weit offen gestanden hatte, bis gegen Ende des Jahrhunderts die KomponistInnen und großen InterpretInnen begannen „unter dem Zwang zu immer größerer Virtuosität die ursprünglich frei gespielten Solopassagen zu notieren“. In den 1960er-Jahren entstanden in Europa Improvisationsgruppen der Neuen Musik wie Franco Evangelistis „Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza“, der anfänglich auch der als Komponist ausgebildete Ennio Morricone als Trompeter angehört hatte, und die „Musica Elettronica Viva“, die – ihrem italienischen Titel zum Trotz – von drei Amerikanern ins Leben gerufen wurde, die 1966 gerade in Rom lebten: die Pianisten und Komponisten Alvin Curran und Frederic Rzweski und der Elektronik-Pionier Richard Teitelbaum. Beide Gruppen spielten eine frei improvisierte Musik, die sich in ihrem Abstand von den starken Bewegungsimpulsen, die den Jazz vom Swing seiner Anfänge bis in die Improvisation des Free Jazz hinein durchzogen, deutlich von jenen aus dem Bereich des Jazz unterschieden. Eine dritte europäische Improvisationsgruppe, AMM, nimmt im Bereich der Neuen Musik eine Sonderstellung ein: unter dem Einfluss des britischen Komponisten Cornelius Cardew bezog sich die von drei Jazzmusikern – dem Gitarristen Keith Rowe, dem Saxophonisten Lou Gare und dem Drummer Eddie Prévost – gegründete Formation stark auf Konzepte aus dem Bereich der Neuen Musik. Die Ruhe der asiatischen Musik hatte prägenden Einfluss und eine an John Cage orientierte, eingehende Beschäftigung mit dem Kontrast zwischen Klang und Stille. Später übten die Möglichkeiten der Klangsteuerung durch den Computer einen großen Einfluss auf frei improvisierende Musiker  aus. Letztlich, trotz all der verschiedenen Einflüsse, die es mit sich brachte, dass sich die Klangwelten frei improvisierender Musiker mit Wurzeln im Jazz oder in der Neuen Musik annäherten, ist das stärkere Formstreben ein Merkmal, das zwar eindeutig auf der Seite der Neuen Musik stärker verwurzelt ist, aber längst in beiden Lagern zum eingeführten Methodenrepertoire zählt. Kager listet vier zentrale Verfahren, eine Form zu definieren, ohne in die Freiheit der Improvisation einzugreifen: die graphische Notation von Formverläufen, die verbale Verabredung über Formverläufe, das Zuspielen von musikalischen Schichten mittels elektronischer Instrumente und schließlich das Ausnotieren von bestimmten Passagen. All diese Verfahren sind längst eingeführt und kommen immer wieder zum Einsatz. So kommt Kager schließlich zu einem durch und durch optimistischen Schluss: Die Konvergenz zwischen improvisierenden Musikern aus Jazz und Neuer Musik ist kaum mehr zu überhören, doch „bleibt bei aller Ähnlichkeit der klanglichen oder strukturellen Perspektiven doch die Spielhaltung der Improvisierenden signifikant, vor allem dann, wenn in größeren Ensembles musiziert wird. Entscheidend dabei ist die Fähigkeit, möglichst rasch und konstruktiv aufeinander zu reagieren, um ein kollektiv gestaltetes, kommunikatives Miteinander zu erwirken. Womit die experimentelle Improvisationsszene immer noch jener Vision die Treue hält, die den Jazz stets begleitet hatte: Die Utopie einer befreiten Gesellschaft, die auf dem fluktuierenden Dialog mündiger Individuen beruht.“
Text: Stefan Hentz

Programm

Donnerstag, 8. Januar

Franziska Buhre
Jazz & Tanz – Von „Negertanz“ (1922) bis „Solo for Mingus“ (1979)

Willem Strank
Jazz & Film – Die komplexe Liebesgeschichte zweier Zeitkünste?

Eva Garthe
Jazz & Hörspiel – Korrespondenzen zwischen zwei akustischen Künsten

Freitag, 9. Januar

Volker Dueck
Jazz & Recorded Music
– Vom Konservieren des Flüchtigen

Martin Niederauer
Jazz & Gesellschaft – Improvisation als gelebte Kritik gesellschaftlicher Herrschaft

Heinrich Lakämper-Lührs
Jazz & Kulturpolitik – Nische, Standard oder Profil?

Peter Ortmann
Jazz & Verantwortung –
Arm aber glücklich? Eine Studie über die Lebensverhältnisse deutscher Jazzmusiker_innen

Reinhard Kager
Jazz & Neue Musik – Kompositorische Konzepte Neuer Musik im Kontext experimenteller Improvisationen