27. Arbeitstagung in Graz (in Zusammenarbeit mit dem Institut für Jazzforschung der Kunstuniversität Graz) | 29. bis 30. Mai 2015

En Detail: Analyse im Jazz.

Für einen anderen Schwerpunkt hätte ich die Reise nicht unternommen. Stefan Hentz benennt „Sinnhuber vs. Stoffhuber“. Dichotomisierungen zeigen, was sie aussparen: Ausnahmslos Zustimmung (sic!) fand Andreas Felber als Nachfolger von Herbert Uhlir. Schön zu sehen, dass sich Qualität, auch menschlich, in professioneller Geisteswissenschaft durchsetzen kann. Am Vorabend besuchte ich den Grazer Vibraphonisten Berndt Luef. Manches ließe sich gegen ihn vorbringen, doch kein aalglatter Lebenslauf. Er berichtete nebenbei von deutlichen Auffassungsunterschieden zwischen amerikanischen und europäischen Musik-Dozenten der Hochschule.

Hefte der Reihe „Jazz Research News“ der „Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung Graz“ lagen freundlicherweise zum Mitnehmen aus. Sie riefen nicht geringes Interesse unter Musikern hervor. Gespräche ergaben, dass auch brillante akademische Leistungen wie z.B. von Jürgen Arndt unter den Umständen des realen Lebens erbracht werden. Spazierte man im Palais Meran umher, stieß man in den Uni-üblichen Flyer-Haufen u. a. auf die Zeitschrift für Musik, Kultur und Volksleben „Der Vierzeiler“ mit ihrer Ausgabe „Jodler und Juchzer, Teil 2“ – gut gegen eingängige Übersichtlichkeit wie die Tagung.

Das Referat des aktuellen Leiters der gastgebenden Institution Franz Kerschbaumer drehte sich um „Stilformen des Jazz in Österreich 1960-80“. Amerikanischer Jazz sei bis heute maßgeblich: Um 1960 Dixieland, auch für Radu Malfatti, Eje Thelin oder Dieter Glawischnig. Noch vorher wird Hans Koller vom Cool Jazz geprägt. Koller übte starken Einfluss auf Joe Zawinul aus – the rest is history. In den 60ern orientierte man sich am Hardbop, zugleich entwickelten sich zeitgemäß erste Personalstile. Hierzu gehört, dass Friedrich Gulda eine wichtige Rolle in dieser Verselbständigung einnahm. Ab Mitte der 60er findet sich bei ihm ein „funky“ Begleitstil mit Grundstimmung Wiener Musik, der später für Zawinul bestimmend wurde.

Free Jazz war in Österreich nicht primär „Kaputtspielen“ oder Protest, sondern eher musikimmanent.  Eine Gruppe ab Mitte der 50er waren  die „Masters of Unorthodox Jazz“. Mitte der 60er bildete sich als zweiter Fixpunkt die „Reform Art Unit“, nachzulesen in der Promotion von Andreas Felber. Auch Eje Thelin vollzog in Graz 1967-72 seine Entwicklung zum Free Jazz. Worldmusic-Elemente kamen hinzu, angeregt von Don Cherry, der wiederholt im Keller des Instituts zu Gast war. Oft vor Ort und entsprechend prägend war John Surman, wie auch Luef berichtete – aufregende Zeiten. Schon in den 70ern begann der Stilpluralismus, zu höchster Blüte geführt vom VAO.

Mit Transkriptionen hat Marton Szegedi nicht unwesentlich zur Attraktivität der „Jazz Research News“ beigetragen. Auch seine Promotion zu John Scofield ist in Graz erschienen. Szegedi referierte über Gábor Szabó und dessen Beitrag zur Fusion-Entstehung. Der Gitarrist nahm Pop und Rock in sein Repertoire auf, was den Nachruhm schmälerte. Das ging bis zu Disco- und Hardrock-Platten. Von heute aus kaum erträglich etwa eine Sixties-Sitar im Musikbeispiel. Szabo, G., geboren 1936, emigrierte nach dem Ungarn-Aufstand mit Zwanzig in die USA und studierte in Boston. Ab Dreißig war er als Leader tätig, 1982 starb er in seiner Heimat.

Mit am bekanntesten von ihm, u. a. durch Santana, ist „Gipsy Queen“. Auch das Titelstück das Albums „Breezin“ von George Benson stammt von Szabó. Der Ungar bekannte sich wiederholt zum Stilpluralismus, blieb aber meist beim akustischen Instrument. Mitte der 60er kam Szabo in den Billboard-Charts, Ende des Jahrzehnts war es damit schon wieder vorbei. Bis in die 70er war die Verwendung von Bordun-Tönen in seinem Spiel wichtig, des Weiteren kontrolliertes Feedback. Dies deutet an, dass mancherlei von Szabo stammt, was heute selbstverständlich ist.

Maximilian Hendler, der sich gern unhinterfragte Historie vorknöpft, referierte zu „Danzon und Ragtime“, zur Beziehung zwischen Jazz und kubanischer Musik. Schon in der Vorgeschichte des Jazz finden sich kubanische Einflüsse, in Country-Musik selbst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Danzon waren nicht in Strophen, sondern in Perioden gegliedert, genannt „Strains“. Diese lassen sich zurückverfolgen bis auf europäische Tänze. Weiter entwickelt wurde besonders die rhythmische Seite. Bekanntestes Beispiel hierzu ist die Habanera „La Paloma“.

En passant verwies Hendler darauf, dass die Sklaverei auch in Afrika nicht vom Himmel fiel und dass es schon lange vor dem „Buena Vista Social Club“ Wellen kubanischer Musik gab. Auf Kuba ist die Habanera heute nicht mehr aktuell. Sie gilt dort mittlerweile als eine Art „Klassik“ und wird entsprechend dargeboten. Scott Joplin komponierte 1909 „Solace“, in der linken Hand ein typischer Strain. W.C. Handy spielte 1922 einen „St. Louis Blues“ ebenfalls mit Habanera. Und als erste weiße Musiker spielten die Six Brown Brothers 1914 „La Paloma“ ein.

In den 50ern fand der Jazz noch erheblich Verwendung im Spielfilm, etwa in „Liebe, Jazz und Übermut“ oder „Der Pastor mit der Jazztrompete“. Bernd Hoffmann rief uns das in Erinnerung. Anspruch hatte hingegen der Kurzfilm „Jazz – Gestern und Heute“ von 1953. Joachim-Ernst Berendt stellte darin das Hans Koller-Quintett den Two Beat Stompers gegenüber. Der damalige Jazz von Heute steht neben dem von Vor-Gestern und Berendt hat wieder etwas zu erklären.

Der damalige SWF startet Anfang der 50er mit einer wöchentlichen Jazzreihe, 1957/58 verantwortet Berendts Jazz-Redaktion bereits fünf Sendereihen im Jahr. So ging es weiter, gesellschaftlich hingegen verlor der Jazz bekanntermaßen seine Relevanz mit dem Aufkommen des Rock’n’Roll. Dies wurde noch verstärkt durch die Grabenkämpfe derer, die die eine oder die andere Gruppe aus Berendts Film bevorzugten. Wundert man sich über die Existenz des Films, so erklärt sie sich aus dem Umstand, dass er als Vorfilm im Kino die Mehrwertsteuer des Hauptfilms halbierte.

Der zweite Tag begann mit Jürgen Arndt und Walzern im Free Jazz: „My favourite things“ und „European echoes“. Johann Strauss wurde auch in den USA zum „Walzerkönig“. Viele Jazzer haben sich Walzer anverwandelt, so auch John Coltrane. „My favourite things“ stammt aus dem Musical “Sound of Music” von Rogers und Hammerstein. Coltrane erläuterte, welche Möglichkeiten ihm das Stück eröffnete: “When you play it slowly, it has an element of gospel that’s not at all displeasing; when you play it quickly, it possesses other undeniable qualities.” Er lernte den Titel von einem sogenannten „Song Plugger“ kennen, einen Verlagsvertreter, und er hat es ja bis zuletzt gespielt. Rashied  Ali ersetzte da schon Elvin Jones, das Spiel war häufig nicht mehr metrisch gebunden, doch erkennt man noch immer den Walzer.

Ornette Coleman arbeitete bei „European echoes“ hingegen eher auflösend, fragmentierend; zuerst 1965 im Trio und zehn Jahre später mit „Prime Time“. In dieser rhythmisch orientierten Gruppe wird das deutlich, aber schon in einer Aufnahme des Trios geht die Gruppe in 4/4 über. Arndt schloss auch die Bildungslücke bzgl. der „Trapp-Family“, mit der mittlerweile sogar Salzburg und Graz ihren Frieden gemacht haben.

Florian Weber brachte den versammelten Laien die Lennie Tristano-Schule nahe, und zwar unter besonderer Berücksichtigung ihres Einflusses auf den  Personalstil von Bill Evans. Er analysierte zwei Soli und ging damit gegen den von Musikern und Kritikern befeuerten Mythos der Improvisation vor, die vom Himmel fällt. Das strukturierte Arbeiten und die Entwicklung einzelner Elemente lässt sich in den Soli von Bill Evans ausmachen. Zwei Hauptmerkmale von Lennie Tristano, die sich später bei Evans wiederfinden, sind die spezielle Rhythmik der Linien und die präzise und konsequente Auflösung von Optionstönen und Guide Ton Lines. Von heute aus kaum vorstellbar: So intensiv sich Tristano um sein Spiel gekümmert hat, so wenig kümmerte er sich um seine Begleiter. Die Rhythmusgruppe des analysierten Solos spielte ihre Spur ein, Tristano legte seine später darüber und erhöhte am Ende sogar das Tempo um 30 BPM.

Lee Konitz hat mit Tristano gespielt und Florian Weber mit Konitz. Dem fehlte bei Tristano schon die Kommunikation mit den Mitmusikern, kontrapunktisch in der Band zu denken. Bill Evans erweitert im Vergleich mit Tristano das Vokabular durch größere Variation der gleichen Ideen. Er entwickelt Motive über einen längeren Zeitraum, kombiniert mehrere Ideen gleichzeitig und erreicht so eine höhere Dichte. Schließlich verlegt er gleiche Ideen auf unterschiedliche Zeitebenen. So wird sogar hörbar, wie sich durch Auseinandersetzung mit dem Bestehenden eine eigene Identität entwickelt.

Last but not least: Franz Krieger, ein unglaublicher Grazer Transkribient, mit „Harmonik bei „Footprints“ am Beispiel von Danilo Perez, Herbie Hancock und Chick Corea“.  Er forscht über Jazz ab den 60ern, dessen harmonische Komplexität so groß ist, dass sie sich im Hören weitgehend dem Verständnis entzieht. „Footprints“ ist ein 12-Takt-Blues, dessen Harmonik wesentlich den traditionellen Vorbildern entspricht. Neben den Originalharmonien setzt Danilo Perez 2003 gängige Spieltechniken z.T. seltener ein wie einen Halbtonabstand, z.T. häufiger wie den Ganztonabstand. Dies ist Teil seines Personalstils, gern auch Rückungen und die Progression in Schritten. Als Bitonalität findet sich bei Perez im Wesentlichen die kleine Terz, die große Terz und die große Sekunde.

Herbie Hancock verwendete 1988 erstaunlich viele Orientierung gebende Originalharmonien. Der Halbtonabstand ist ihm ganz wichtig, der Ganztonabstand hingegen kaum, ebenso die Bitonalität. Rückungen verwendet er gern, Parallelverschiebung hingegen kaum. Chick Corea spielte den Titel 1970 bei Miles Davis, immer in c-Moll. Aufgrund dessen verwendete Corea hauptsächlich Rückungen, besonders den Ganzton nach oben. Um mehr herauszuholen, greift er Dur-Akkorde, allein 17 Mal den E-Dur-Akkord, der drei kleine Terzen bildet. Und, wie es nicht nur in der Wissenschaft zu sein hat: Viele Fragen sind noch zu klären. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Text: Constantin Sieg

Programm

Franz Kerschbaumer
Stilformen des Jazz in Österreich (1960-1980)

 Martin Szegedi
Zwischen Jazz und Rock: Der Jazzgitarrist Gábor Szabó und sein Beitrag zur Entstehung der Fusion Music

Maximilian Hendler
Danzon und Ragtime. Ein nordamerikanisches Musikareal im 19. Jahrhundert

Thomas Phlebs
Rollin‘ And Tumblin‘ – Verkehrswege im Blues

 Jürgen Arndt
Walzer im Free Jazz: „My Favorite Things“ und European Echoes“

Hans J. Wulff
„Nehmen Sie das Hinterlicht weg!“ -Die filmische Auflösung von Jazz-Performances

 Florian Weber
Die Lennie Tristano Schule unter besonderer Berücksichtigung ihres Einflusses auf Bill Evans‘ Personalstil.

Franz Krieger
Harmonik bei „Footprints“ am Beispiel von Danilo Perez (2003), Herbie Hancock (1988) und Chick Corea (1970)