44. RJR Arbeitstagung in Münster | 05. – 06. Januar 2023: Wildcard

Themen von Radio Jazz Research-Mitgliedern 

Wildcard ist ein wiederkehrendes Tagungsformat, in dem der Arbeitskreis Radio Jazz Research, nicht wie im Regelfall ein leitendes Thema aus verschiedenen Perspektiven ausleuchtet, sondern in einem thematisch offenen Reigen von Vorträgen, Referaten, Podiumsgesprächen die breit gestreute Kompetenz der versammelten Jazzhistoriker, -forscher und -publizisten in den Fokus nimmt.

Obwohl die Freiheit der Referenten bei der Wahl ihrer Themen freie Hand haben, ergeben auch bei der 44. Arbeitstagung am 5./6. Januar 2023 in Münster thematische Schwerpunkte und Überlappungen. Während Michael Rüsenberg (Köln) in seiner Erörterung der Frage „Wem gehört der Jazz“, Bestrebungen innerhalb der deutschen Jazzszene aufgreift, Jazzhochschulen in «Black American Music Institutes» umzutaufen, nähert sich Gerhard Putschögl (Frankfurt/Main) in seinem Referat „Reinterpretation/Covering unter der Perspektive der ‚kulturellen Aneignung’“ ebenfalls Fragen von Identitäts- und Besitzverhältnissen im Bereich des Jazz.

Ein zweiter Themencluster thematisiert die Instrumentalisierung des Jazz im Kulturkampf der Systeme zur Zeit des Kalten Krieges. Konstantin Jahn (Dresden) verfolgt in „Henry Pleasants oder die Jazz-Hipster der CIA“ die Versuche des Leiters des CIA-Büros in Bonn, mittels des Freiheitsversprechens, das man dem Jazz (und auch der abstrakten Malerei) zuschrieb, kulturelle Geländegewinne gegenüber der zweifelhaften Attraktivität des sogenannten „realen Sozialismus“ zu erzielen. Unser Gast, Rüdiger Ritter (Bremerhaven), dagegen untersucht mit seinem Vortrag „Ein zweischneidiges Schwert“, wie West und Ost in der Blockkonfrontation, den Jazz als Propagandawaffe nutzten.

Relativ unverbunden sind schließlich die Referate von Michael Krzeminski (Bonn), der unter dem Titel „Innovation im Jazz“ musikalische Innovationsprozesse im Jazz aus kommunikationssoziologischer Perspektive untersucht und Iwan Wopereis’ (Rotterdam) Nachbericht über die Anwendung seiner empirischen Erhebung „Music experts‘ knowledge on improvisational expertise: The RJR case“ auf den Arbeitskreis Radio Jazz Research selbst. Einen weiteren selbstreflexiven Akzent bildet schließlich Christian Rentschs (Zürich) Überlegungen über „Die Misere der Jazzkritik“ als Schlusspunkt der Tagung.

Wir erweitern die Tagung durch eine Präsentation der Deutsche Jazzunion zur „Jazzstudie 2022“ und einem ersten Einblick in das Projekt „Jazzpilot*innen“.

5. Januar 2023  14.30
Begrüßung: Frauke Schnell, Kulturamt Stadt Münster, Dr. Bernd Hoffmann RJR

5. Januar 2023  15.00 Uhr
Michael Krzeminski:

Innovation im Jazz 

Der Beitrag technischer Innovationen zum gesellschaftlichen Wandel gilt – u.a. durch kommunikationssoziologische Untersuchungen – als verhältnismäßig gut ausgeleuchtet. Wie verhält es sich jedoch mit Innovationen im Jazz? Welchen Rang hat hier Neues im Verhältnis zum Traditionellen, ergeben sich markante Innovationspfade oder gar Innovationssprünge aufgrund der Wechselwirkung mit anderen Gesellschaftsbereichen und welche Rolle spielt der geniale Erfinder? Sind Entstehung und Entwicklung des Jazz womöglich insgesamt kultureller Ausdruck neuzeitlicher Fortschrittssehnsucht? Im Vortrag wird versucht, Erkenntnisse der allgemeinen Innovationsforschung möglichst anschlussfähig für eine jazzkundliche Debatte aufzubereiten.

5. Januar 2023  16.00 Uhr
Michael Rüsenberg:

Wem gehört der Jazz?

Oder, warum deutsche Jazzhochschulen nicht in «Black American Music Institutes» umgetauft werden sollten

5. Januar 2023  17.00 Uhr
Gerhard Putschögl:

Reinterpretation/Covering unter der Perspektive der „kulturellen Aneignung“

Erfolgreiche Kompositionen und markante Stilkomponenten boten in sämtlichen musikalischen Genres von jeher Anlaß zur Nachahmung, Verarbeitung und Umdeutung. Anhand ausgewählter Beispiele werden hier unterschiedliche Aspekte der Adaption, der Reinterpretation, des Coverns beleuchtet: neben der Betrachtung von Details der musikalischen Verarbeitung und den z.T. bemerkenswerten soziokulturellen Auswirkungen dieser Vorgänge gilt es auch den Blick auf den Aspekt „kulturelle Aneignung“ (Distelhorst 2021) zu werfen.

5. Januar 2023  18.00 Uhr
Außerordentliche Mitgliederversammlung

6. Januar 2023  9.30 Uhr
Konstantin Jahn:

Henry Pleasants oder die Jazz-Hipster der CIA 

Henry Pleasants (1910-2000), amerikanischer Musikwissenschaftler und Jazz-Aficcionado, leitete  zwischen 1956-1964 das CIA-Büro in Bonn. Er war maßgeblich an der Gründung des Bundesnachrichtendienstes beteiligt. Für Pleasants und andere Kader der CIA war Jazz ihre ›secret sonic weapon‹  im Kalten Krieg. Die Ivy League-Zöglinge der CIA  förderten weltweit – und speziell in der BRD – Jazz und abstrakten Expressionismus im antikommunistischen Kulturkampf. Nicht selten, verbarg sich hinter dem progressiven Kulturverständnis, reaktionäre Machtpolitik.

6. Januar 2023  10.30 Uhr
Rüdiger Ritter:

Ein zweischneidiges Schwert:

Wie West und Ost im Kalten Krieg den Jazz als Propagandawaffe nutzten

 Seit den Forschungen Penny van Eschens und anderen ist bekannt, dass Jazz  von der US-Administration gezielt als Mittel zur psychologischen Kriegsführung im Kalten Krieg eingesetzt wurde. Weit weniger bekannt ist, dass auch die Sowjetunion und die Ostblockstaaten das traten, und zwar mit erstaunlicher Kreativität. Dr. Rüdiger Ritter zeigt in seinem Vortrag, wie die Kulturpolitiker auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ihr Gegenüber genau beobachteten und dann gezielt Einfluss auf den Jazz und das Jazzleben nahmen. Dabei verwendet er Archivmaterial aus amerikanischen, russischen, polnischen und deutschen Archiven.

6. Januar 2023  11.30 Uhr
Iwan Wopereis:

Music experts‘ knowledge on improvisational expertise: The RJR case

Improvisational expertise in jazz entails a dynamic mixture of musical knowledge, skills, and attitudes that is needed to improvise consistently and superiorly on a set of representative improvisational tasks. This study presents a group concept mapping (GCM) study that identifies critical constituents of improvisational expertise. Data collection in GCM consists of the generation, sorting, and rating of features. Data analysis includes multidimensional scaling (MDS), hierarchical cluster analysis (HCA), and semantic analyses. Musical experts (i.e., critics, musicians, researchers) of the German Radio Jazz Research (RJR) association took part in study. The participants generated 81 features of improvisational expertise. MDS, HCA and a semantic analysis resulted in a 7-cluster concept map. Skills, knowledge and attitudes related to individuality (uniqueness) were central to the map. The most highly valued (and teachable) features of expertise had to do with musical interaction (communication). The experts further acknowledged the value of musical exploration and (continuous) development of expertise. The map is a useful impetus for the (re)development of curricula in music education.

6. Januar 2023  12.30 Uhr
Christian Rentsch:

Die Misere der Jazzkritik

Einerseits soll der Beitrag zur kritischen Reflexion der eigenen Arbeit beitragen und  andererseits für Anregungen sorgen könnte, um die Bedeutung, die Relevanz und Aktualität der Fachpresse zu verbessern.

6. Januar 2023  14.30 Uhr
Jakob Fraisse/ Jan Monazahian:

Präsentation der Deutsche Jazzunion zur „Jazzstudie 2022“ und das Projekt „Jazzpilot*innen“.

Mit der „Jazzstudie 2022“ will die Deutsche Jazzunion einen Beitrag zu einem tieferen Verständnis für die Situation von Jazzmusikerinnen und Jazzmusikern in Deutschland leisten. Neben Veränderungen der sozioökonomischen Situation stehen in der „Jazzstudie 2022“ insbesondere die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Berufspraxis und das persönliche Wohlbefinden im Fokus. Außerdem wird die Dokumentation des Kooperationsprojekts „Jazzpilot*innen“ der Deutschen Jazzunion und der Bundeszentrale für politische Bildung präsentiert.

ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN

43. RJR-Tagung in Lübeck – Ein Resümee von Stefan Hentz

43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz

In Zusammenarbeit mit dem „Jazzpool Lübeck e.V.“ im Rahmen des Travejazz-Festivals.

Ein Resümee von Stefan Hentz

Nach „Identitäten“, Plural, fragte die 43. Arbeitstagung von Radio Jazz Research am 9. und 10. September in Lübeck, und schon in der Pluralbildung bildete sich die Fragilität statischer Konzepte von Identität ab. Wer auf den Begriff Identität zurückgreifen will, so scheint es, sollte eine Vielfalt von Identitäten oder Zuschreibungen voraussetzen, deren Nebeneinander erst die eine, von allen anderen unterscheidbare Identität eines Individuums beschreibt.

Mit seinen Überlegungen über Identitäten im Jazz, legte Michael Rüsenberg zur Einführung in die Tagung schon einmal eine funkensprühende Lunte an Konzepte, die mit dem Begriff der Identität versuchen, ästhetische Praktiken und Strategien im Jazz zu begründen. Im Anschluss an den Philosophen Wolfgang Welsch, der Identität trocken als die „singuläre Beziehung eines Gegenstandes zu sich selbst“ beschreibt, als ein „Amalgam aus Wahrheit und Dichtung, aus Realität und Wünschen“ und damit als eine „von Grund auf soziale Angelegenheit“, die man nicht aus sich selbst heraus entwickeln kann. „Wo immer man genauer nachforscht“, zeigt sich nach Welsch, „dass das, was angeblich rein national ist, in Wahrheit auf einem Mix internationaler und transnationaler Komponenten beruht“. Transkulturalität ist demnach „die Regel und die Realität“.

Dennoch, so zeigte sich im weiteren Verlauf der RJR-Tagung, lassen sich Aspekte der Beschreibung von Identität, lassen sich Gender, Ethnizität, Bildung, sozialer Status, und viele weitere, für die Beschreibung von realen Verhältnissen in dem sozialen Feld des Jazz mit Recht verwenden. Aus der Sicht eines Lehrenden, zu dessen Ethos es gehört, zu versuchen, allen seinen Studierenden gerecht zu werden, zäumte Andre Doehring, Leiter des Instituts für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz seinen Vortrag „’They say I’m different’: Identitäten im und für den Jazz erkennen, verstehen und fördern“, am Beispiel einer Studentin auf, die zwar eine sehr talentierte, ausdrucksstarke und ideenreiche Sängerin sei, aber von den verschiedenen Regelsystemen, die die Akzeptanz vor allem im Bereich Jazz regeln, von entsprechenden stilistischen Vorschriften und Verhaltenscodes immer wieder abgeschreckt wurde und sich stilistisch mittlerweile auf ihren Ausgangspunkt zurückbesonnen hat: auf den scheinbar so machohaften Hardrock. Das didaktische Ideal der Horizonterweiterung konnte so offenbar nicht realisiert werden.

In eine ähnliche Kerbe schlug auch die Ethnomusikologin und Musikwissenschaftlerin Christiane Gerischer, die bis vor kurzem in Potsdam als Präsidentin die Fachhochschule Clara Hoffbauer leitete, die in ihren Ausführungen über weibliche Drummer im Jazz, mit der verbreiteten Wahrnehmung aufräumte, dass sich deren Lage schon wesentlich verbessert habe. Im Gegenteil: rein zahlenmäßig waren Frauen in den 1940er-Jahren, als viele der männlichen Kollegen in den Kriegsdienst eingezogen waren, besser vertreten als heute. Doch noch heute werden Schlagzeugerinnen (und für andere Instrumentalistinnen gilt dies analog) häufig so inszeniert, dass sie primär als Frau, Blickfang und Sexualobjekt und erst in zweiter Linie als die kompetenten Musikerinnen wahrgenommen werden, die sie sind. Konkret belegte Gerischer mit Ausschnitten aus Interviews mit Schlagzeugerinnen und Perkussionistinnen der aktuellen Szene (Mareike Wiening, Sasha Berliner, Kalia Vandever), dass weder die Zeiten der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts vergangen sind, noch jene des plumpen Anbaggerns. Und dass Frauen, um für das was sie tun, anerkannt zu werden, darin noch immer wesentlich besser sein müssen als ihre männlichen Kollegen, Mitbewerber, Konkurrenten. Wovon die interviewten jungen Schlagzeugerinnen aber auch berichten, das sind Agenten der Selbstheilung in der Szene, bereits etablierte Musiker und Musikerinnen mit fest geknüpften Netzwerken, die jüngeren Kolleginnen, von deren musikalischer Qualität sie überzeugt sind, als Mentoren mit Rat und Tat (und Weiterempfehlungen) unterstützend zur Seite stehen.

Mit sehr persönlich angelegten Beiträgen verschoben zwei aktive Musiker den Fokus der Tagung ein großes Stück weiter in Richtung Konkretion. Im Gespräch mit Arne Schumacher berichtete die Saxofonistin Holly Schlott, die man bis 2018 als Volker Schlott beispielsweise aus dem Saxofonquartett Fun Horns kannte, von der Prozesshaftigkeit ihrer Geschlechtsangleichung, die sie nicht als einen Sprung zwischen zwei binären Zuständen, männlich/weiblich, versteht, sondern als eine Ausweitung ihres Rollenrepertoires, die sie heute mit großer Emphase als durchaus lustvoll und bereichernd beschreibt. Obwohl die Geschlechtsangleichung ohne Zweifel eine starke Veränderung der empfundenen Identität bewirkt, ist sie für Schlott nicht mit einer Abspaltung ihrer vorherigen Lebensgeschichte als Mann verbunden, entsprechend gelassen reagiert sie, wenn sie als „Volker“ angesprochen wird oder verwendet auf aktuellen CD-Veröffentlichungen beide Vornamen. Allerdings verschweigt die Saxofonistin keineswegs, dass sie sehr lange gezögert habe, bis sie erst an der Schwelle zur Beendigung ihres sechsten Lebensjahrzehnts ihr öffentliches Geschlecht an das schon sehr lange empfundene angeglichen habe. Und dass sie sich sehr gewundert habe, dass es in der Jazzszene, sehr wenig Reaktionen auf ihre Geschlechtsangleichung gegeben habe, weder negative noch positive, was sie selbst mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen habe. 

Fernab von den binären Schattenspielen um gender, race, class, etc, die so häufig die Debatten um Identitäten prägen, demonstrierte der Pianist Sebastian Sternal auf der instrumentaltechnischen Mikroebene, wie man als Musiker aus dem Studium seiner Vorbilder ein Vokabular von melodisch, harmonisch, rhythmischen Kurzformeln für den Zweck der Improvisation entwickeln kann, das sich einerseits direkt aus dem Strom der Jazztradition (oder potentiell auch jeder beliebigen anderen Tradition) speist, und andererseits durch die persönlichen Vorlieben gefiltert und damit höchst individuell ist. Den grundlegenden Stimmerwerb im Sinne des Erwerbs einer eigenen, unverwechselbaren (Instrumental-)Stimme als Musiker verlegt er damit in den Bereich einer sozusagen bewusst gesteuerten Entwicklung von kleinen und kleinsten musikalischen Sinnpartikeln, die man eher als Silben oder Phoneme verstehen könnte, denn als Worte, Sätze, Absätze.

So sehr im Verlauf der 43. RJR-Tagung deutlich wurde, dass vor allem das Identitätsmerkmal Gender im deutschen Jazz des Jahres 2022 noch immer von großer Bedeutung für die Zugangsregelungen ist, (andere Identitätsmerkmale wie Hautfarbe, Religion, Bildungsgrad, soziale Herkunft, etc. wurden – wenn überhaupt – nur en passant thematisiert), so deutlich wurde auch, dass mit der Thematisierung von identitätsbezogenen Diskriminierungen allein, kaum wesentliche Fortschritte in Sachen Chancengerechtigkeit und Niedrigschwelligkeit zu erzielen sind. Zwar könnten Quotenlösungen möglicherweise ein anderes, diverseres und damit auch inklusiveres Binnenklima in der Jazzszene befördern, doch um wirklich näher an den Idealzustand einer Farbenblindheit in Sachen Identitätsmerkmalen heranzurücken, wäre es notwendig, auf der Ebene des konkreten Handelns Vorgehensweisen wie beispielsweise Blind Auditions bei Besetzungsfragen zu entwickeln, die Vorurteile weitgehend ausschließen. Mit der enormen Spannung zwischen der philosophischen Ebene der Begriffsklärung, in der die Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung über Fragen der Identitäten selbst bisweilen ins Schwimmen geraten kann und der von Sternal vorgestellten praktischen Ebene, auf der die Selbstkonstruktion von Identitäten jede Transzendenz abstreift und sich als eine sehr kleinteilige Arbeit an den Details des eigenen musikalischen Vokabulars erweist.

Rezension von Schmidt-Joos «Jazz Echos aus den Sixties»

Mit freundlicher Genehmigung von jazzcity.de

Siegfried Schmidt-Joos (Hg)
Jazz-Echos aus den Sixties
Kritische Skizzen aus einem hoffnungsvollen Jahrzehnt
Kamprad Verlag, 2022
228 S., 19.60 €

Am 22. Mai 1959 spielt der Saxophonist Ornette Coleman sein Album „The Shape of Jazz to come“ ein, darunter das Stück „Congeniality“; in seinem berühmten Quartett befindet sich u.a. der Trompeter Don Cherry.
Sechs Jahre später beurteilt der Jazzkritiker Werner Burkhardt (1928-2008) in einem Porträt über Don Cherry dessen Performance in diesem Stück so:
„Was jedoch gewinnt Don Cherry, wenn er darauf verzichtet, ordentlich Trompete zu spielen? Bei den ersten Aufnahmen, die er mit Ornette Coleman eingespielt hat, gewinnt er nichts. Da wohnen wir öffentlichem Üben bei, hören unsaubere Etüden, die ins Kämmerlein, aber nicht auf die Schallplatte gehören, und müssen unbewältigte Einflüsse konstatieren. In ´Congeniality´ auf der Atlantic-LP ´The Shape of Jazz To Come´ werden wir an Dizzy Gillespie erinnert, und das ist bei einem so ungelenkigen Trompeter wie Don Cherry ja ein peinlicher Griff nach den Sternen“.
Ein solcher Ton muss Nachgeborene und und auch Zeitgenossen heute überraschen, Ikonen wie Don Cherry werden heute durchweg pfleglicher und nachsichtiger behandelt.
Trotz dieser scharfen Kritik tritt Burkhardt Don Cherry aber nicht – wie man heute sagt – „in die Tonne“; er ringt mit seinem Urteil, er entdeckt durchaus Momente, wo der Trompeter zu sich selbst findet, zum Beispiel auf Sonny Rollins´ „Our Man in Jazz“, 1963 („Hier steht Don Cherry seinen Mann.“)
Wiederum Jahre später, bei einer Jam Session in Schwabing, („ich saß an meinem Tisch und versuchte gerecht zu sein“), trat Cherry an diesen heran und sagte: ´In fünfzig Jahren gehört das, was ich jetzt spiele, zur Tradition´. Also sprach Don Cherry, und auf diesen Ausspruch haben meine Freunde in Hamburg sehr trocken reagiert. Sie meinten: ´Na, der soll sich freuen, wenn in fünfzig Jahren überhaupt noch jemand seinen Namen kennt´.
Heute wissen wir: Don Cherry hat seine Münchner Prophezeiung so halbwegs überlebt, die anonymen Hamburger Freunde Burkhardts die ihre nicht.
Weitaus mehr als die Schärfe des Urteils und, ja auch, die Eleganz der Sprache, in der sie hervortritt, überrascht, nein verblüfft ihr Ort.
Werner Burkhardt äußert sich im Januar 1965 nicht dort, wo man ihn vermutet hätte: im Feuilleton oder im Radio – er äußert sich im „Jazz Echo“. Und das lag damals gar nicht offen zu Tage. Das musste man erst mal finden.
Das „Jazz Echo“ war quasi versteckt als 8-seitiger, monatlicher Einhefter im Magazin „Gondel“.
Das kannten wir Jugendliche selbstverständlich, von verschämten Blicken am Bahnhofskiosk. Man hätte es uns gar nicht verkauft, weil es schon mit dem Titelbild an uns Minderjährigen vorbei adressiert war: junge Frauen in Pose, im Badeanzug, später im Bikini.
Seit 1948 schaukelte das „Jazz Echo“ versteckt in der „Gondel“.
(Ein analoger Fall waren Ende der 60er die „Sankt Pauli Nachrichten“; erotisch zwar weitaus dreister. Aber – zuverlässig in der Information über alles, was damals über John Mayall, Peter Green oder Alexis Korner zu berichten war.)
Erster „Jazz Echo“-Redakteur war ein gewisser Joe Brown, das kaum verhüllte Pseudonym des ersten Radio-Jazzredakteurs in Deutschland: Joachim Ernst Berendt!
(Kleine Utopie am Rande: wäre heute ein ARD-JazzredakteurIn in seinem Job überlebensfähig, der auch nur ein kleine Jazz-Kolumne sagen wir im „Playboy“ betriebe?)
1959 übergibt Berendt alias Brown die Verantwortung an Siegfried Schmidt-Joos, sehr viel später einer seiner zahlreichen Gegner.
Schmidt-Joos, 86, war damals Jazzredakteur bei Radio Bremen, später (nicht nur für Jazz) beim Spiegel, beim RIAS und beim Sender Freies Berlin.
Gegenwärtig beschäftigt sich der „elder statesman der deutschen Jazzpublizistik“ (was, entgegen seiner Annahme, keinerlei ironischen Unterton besitzt) mit der Evaluierung seines umfangreichen Archivs.
Gegenüber „Es muss nicht immer FreeJazz sein“ (2021)
https://www.jazzcity.de/index.php/buecher/2552-siegfried-schmidt-joos-es-muss-nicht-immer-free-jazz-sein
bringt er mit seinem neuen Archivgang die, alles in allem, sicher gewichtigeren Funde ans Licht.
Dabei hält er sich nicht weiter auf mit der Komik, vielleicht auch Tragik des Publikationsortes, ein Jazzmagazin eingeschlagen in eine, nun ja, Sex-Postille (hier hätte er in einem luftigen Feuilleton bis an die Bordellnähe des frühen Jazz zurückschreiten können). Er hat eine Botschaft, es geht ihm darum, „sich an Auseinandersetzungen, wie wir sie damals führten, in einer Zeit noch einmal zu erinnern, die bezüglich des Jazz um sehr viel spannungsärmer und einschläfernder geworden ist. Ich gestehe mir übrigens zu, die Sixties nächst den Forties für das spannendste Jahrzehnt der Jazzgeschichte zu halten“.
Ob man dieser Perspektive nun zustimmt oder nicht, Schmidt-Joos´ Selektion reicht allemal für einige staunenswerte Beiträge, vermutlich ein „Best of Jazz Echo“ aus den sechzigern.
Bis auf den Herausgeber sind alle Autoren verstorben: Joachim Ernst Berendt (1922-2000), Ingolf Wachler (1911-1988), Werner Burkhardt, Manfred Miller (1943-2021), sowie die beiden Amerikaner Nat Hentoff (1925-2017) und Mike Zwerin (1925-2015).
Unabhängig davon, ob sie mit ihren Urteilen „richtig“ lagen, waren bzw. sind sie mehr oder weniger Stilisten. Ja, ihre Sprache ist zeittypisch: die Leser werden gesiezt, die Autoren schreiben auch über Frauen, vulgo: Sängerinnen; die Vorstellung, sich etwas anderem als des generischen Maskulinum zu bedienen, hätten sie mit der Formvollendetheit abgewiesen, in der sie Damen in den Mantel halfen.
Ja, sie schrieben eleganter, höflicher – und kritischer. Und eben das mag Zeigenossen wie Nachgeborene vielleicht doch am meisten überraschen. Zum Beispiel der sanfte Werner Burkhardt, dass er so mit Don Cherry umspringt. Oder Mike Zwerin, der ohne großes Aufhebens einen zentralen Glaubenssatz des Jazz („Wer derart zauberhafte Musik spielt, muss auch als Mensch so sein – davon bin ich überzeugt“) anhand von Miles Davis´ „Bissigkeit“ widerlegt.
Oder Manfred Miller, um des Urteils Schärfe selten verlegen. Im Jazz-Echo 8/1966 macht er den jungen Wolfgang Dauner einen Kopf kürzer („In diesem Sinne ist – gestatten Sie die soziologische Terminologie – der Jazz des Wolfgang-Dauner-Trios Ideologie, falsches Bewusstsein von der Wirklichkeit, das deren mögliche Veränderung gerade verhindert“.)
Yes, Folks, those were the days. Das ist nun wirklich ein Sound der Sixties; in bestimmten Kreisen hielt man ihn für soziologisch, obwohl er doch nur vulgär-marxistisch war.
Dass Miller derart mit Dauner umspringt (insbesondere dessen Album „Dream Talk/Trio 64“) muss im hier präsentierten Panorama des „Jazz Echo“ überraschen (es reicht von John Lee Hooker und Frank Sinatra bis Bill Evans und Eric Dolphy).
In Heft 9/1966 betätigt er sich nämlich (ähnlich wie in der legendären ARD-Sendung im Mai 1967) als eloquenter Advokat des im Kontext der Hefte ja stilistisch nicht so weit entfernten Peter Brötzmann.
Dass Miller vergisst zu erwähnen, im Juni 1967 an der Produktion von Brötzmanns „For Adolphe Sax“ beteiligt gewesen zu sein (und sie in Berendt´scher Manier im „Jazz Echo“ 10/1967 bespricht), mag als lässliche Sünde erscheinen gegenüber dem Lesevergnügen, das sich auch heute noch einstellt.
Wenn er en detail die Ablösung von überkommenen Strukturen beschreibt und seinem Motto folgt: „das einzig mögliche Kriterium zur Beurteilung einer neuen Musik (ist) ihre innere Stimmigkeit“.
Die sieht er bei Brötzmann als gegeben. Und man muss höllisch aufpassen, nicht auch die problematischen Annahmen mitzuverdauen, die sich darin verstecken. Sie zeigen sich in Sätzen wie diesem:
„Erst wenn der persönliche Ausdruck Form gewinnt, Objektivität also und Verständlichkeit, ist die Musik über den bloßen gutgemeinten, aber misslungenen Versuch hinaus“.
Objektivität und Verständlichkeit mit der Form der Musik gleichzusetzen – heikel.
Oder dieser hier, bis heute einer der zentralen Glaubenssätze des Jazz:
„Die Musiker sind identisch mit dem, was sie spielen. In einer musikalisch
hochdifferenzierten Sprache teilt sich Persönliches mit“.
Was erfahre ich „Persönliches“ über den Menschen Brötzmann in seiner Musik?
Sind John Lee Hooker oder Charlie Parker weniger identisch mit dem, was sie jeweils spielen?
Dieser Satz hingegen erweist sich 56 Jahre später eindeutig als falsch. Er bringt den Untertitel des Bandes („Kritische Skizzen aus einem hoffnungs-vollen Jahrzehnt“) in idealtypischer Weise zum Klingen:
„Die Avantgardisten des Peter Brötzmann Trios spielen heute, was für viele erst morgen schön sein wird“.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Man wird zudem gute Gründe finden für die Annahme, dass sie sich nie erfüllen wird – zumal sie die Frage miteinschließt, ob denn „gute“ Musik“ auch „schön“ sein müsse.
(Eine Überlegung, der Karl Rosenkranz schon 1853 seine „Ästhetik des Hässlichen“ entgegenstellte).
Es macht Spaß, ja es ist intellektuell ertragreich, in das Schreiben über Jazz vor 60 Jahren einzutauchen. Um den Jazz von damals – und auch den von heute – besser zu verstehen.

PS: Auf Seite 90 hat Schmidt-Joos oder sein Verleger ein- nein kein deep fake, sondern ein shallow fake hingemogelt: das vorgebliche Titelbild von Jazz-Echo 8/1966 kann unmöglich authentisch sein. Es zeigt einen schon recht fülligen Wolfgang Dauner sowie im Hintergrund Volker Kriegel. Beide mithin zu einem Zeitpunkt, da das Jazz-Echo schon etliche Jahre verklungen war.

Jazzpool Lübeck e.V.
Presseinformation


Jazz steht für Vielfalt und Akzeptanz
Erfolgreiche Tagung zusammen mit dem Radio Jazz Research e.V.

© Maximilian Busch


Die 43. Tagung des Radio Jazz Research ist zu Ende. Auf Einladung des Jazzpool Lübeck e.V. kamen
am vergangenen Wochenende vom 8. bis 10. September 30 Fachleute des Jazz in Lübeck zusammen, referierten und diskutierten umfassend zum Thema „Identitäten im Jazz“.

Die Teilnehmenden aus Musikwissenschaft, Journalismus, Musikliteratur, Medienredaktionen,
Spielstäten, von Festivals und ebenso Musikerinnen und Musiker erörterten im „Beichthaus“ des Europäischen Hansemuseums Fragestellungen zur Transkulturalität, zum Selbstverständnis von
Musikschaffenden im Jazz, zu spezifischen Gender-Aspekten, zur förderpolitischen Anerkennung des Jazz und natürlich zum Frauenanteil im Jazz und in der improvisierenden Musik.


In allen Beiträgen kam zum Ausdruck, dass Jazz und improvisierte Musik immer schon und weiterhin musikalische und ebenso außermusikalische Inspirationen von innen wie von außen geradezu benötigen, um sich, ganz im Sinne dieser Musik, stets weiterentwickeln zu können und damit für Musikschaffende wie auch für das Publikum spannend und interessant, aber auch überraschend zu bleiben. Jazz ist in seinem Ursprung eine global-offene Musik – und wird es aufgrund seiner Vielfalt und Akzeptanz auch bleiben.


Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus insgesamt fünf Ländern hatten abseits des Tagungsprogramms Gelegenheit zum Besuch des Europäische Hanse Museums und des Travejazz Festivals. Auch die Lübecker Musikschule stand für einen musikalischen Vortrag zur Verfügung.


Bernd Hoffmann, Vorsitzender des Radio Jazz Research, und Peter Ortmann vom Jazzpool Lübeck zogen eine positive Bilanz der Gespräche: „Nach Meinung unserer Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer war diese Tagung von einem hohen Niveau der Vorträge und anschließenden Aussprachen angesichts eines zeitaktuellen wie auch komplexen Themas geprägt. Dazu trug nicht zuletzt die inspirierende Umgebung der alten Hansestadt Lübeck bei.“


Unterstützung fand die Tagung beim Kulturbüro der Hansestadt. Die stellvertretende Stadtpräsidentin Silke Mählenhoff hatte die Tagungsgesellschaft zu Beginn der Tagung in der Hansestadt begrüßt.


Für weitere Informationen und Impressum:
Jazzpool Lübeck e.V., c/o Dr. Peter Ortmann, Hüxtertorallee 45, 23564 Lübeck, Tel. 0151 61 223 660, E-Mail ortmann@jazzpool-luebeck.de, www.jazzpool-luebeck.de

43. RJR Arbeitstagung in Lübeck | 08. – 10. September 2022

© Maximilian Busch

43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz

In Zusammenarbeit mit dem „Jazzpool Lübeck e.V.“ im Rahmen des Travejazz-Festivals.

Ein Resümee von Stefan Hentz

Nach „Identitäten“, Plural, fragte die 43. Arbeitstagung von Radio Jazz Research am 9. und 10. September in Lübeck, und schon in der Pluralbildung bildete sich die Fragilität statischer Konzepte von Identität ab. Wer auf den Begriff Identität zurückgreifen will, so scheint es, sollte eine Vielfalt von Identitäten oder Zuschreibungen voraussetzen, deren Nebeneinander erst die eine, von allen anderen unterscheidbare Identität eines Individuums beschreibt.

Mit seinen Überlegungen über Identitäten im Jazz, legte Michael Rüsenberg zur Einführung in die Tagung schon einmal eine funkensprühende Lunte an Konzepte, die mit dem Begriff der Identität versuchen, ästhetische Praktiken und Strategien im Jazz zu begründen. Im Anschluss an den Philosophen Wolfgang Welsch, der Identität trocken als die „singuläre Beziehung eines Gegenstandes zu sich selbst“ beschreibt, als ein „Amalgam aus Wahrheit und Dichtung, aus Realität und Wünschen“ und damit als eine „von Grund auf soziale Angelegenheit“, die man nicht aus sich selbst heraus entwickeln kann. „Wo immer man genauer nachforscht“, zeigt sich nach Welsch, „dass das, was angeblich rein national ist, in Wahrheit auf einem Mix internationaler und transnationaler Komponenten beruht“. Transkulturalität ist demnach „die Regel und die Realität“.

Dennoch, so zeigte sich im weiteren Verlauf der RJR-Tagung, lassen sich Aspekte der Beschreibung von Identität, lassen sich Gender, Ethnizität, Bildung, sozialer Status, und viele weitere, für die Beschreibung von realen Verhältnissen in dem sozialen Feld des Jazz mit Recht verwenden. Aus der Sicht eines Lehrenden, zu dessen Ethos es gehört, zu versuchen, allen seinen Studierenden gerecht zu werden, zäumte Andre Doehring, Leiter des Instituts für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz seinen Vortrag „’They say I’m different’: Identitäten im und für den Jazz erkennen, verstehen und fördern“, am Beispiel einer Studentin auf, die zwar eine sehr talentierte, ausdrucksstarke und ideenreiche Sängerin sei, aber von den verschiedenen Regelsystemen, die die Akzeptanz vor allem im Bereich Jazz regeln, von entsprechenden stilistischen Vorschriften und Verhaltenscodes immer wieder abgeschreckt wurde und sich stilistisch mittlerweile auf ihren Ausgangspunkt zurückbesonnen hat: auf den scheinbar so machohaften Hardrock. Das didaktische Ideal der Horizonterweiterung konnte so offenbar nicht realisiert werden.

In eine ähnliche Kerbe schlug auch die Ethnomusikologin und Musikwissenschaftlerin Christiane Gerischer, die bis vor kurzem in Potsdam als Präsidentin die Fachhochschule Clara Hoffbauer leitete, die in ihren Ausführungen über weibliche Drummer im Jazz, mit der verbreiteten Wahrnehmung aufräumte, dass sich deren Lage schon wesentlich verbessert habe. Im Gegenteil: rein zahlenmäßig waren Frauen in den 1940er-Jahren, als viele der männlichen Kollegen in den Kriegsdienst eingezogen waren, besser vertreten als heute. Doch noch heute werden Schlagzeugerinnen (und für andere Instrumentalistinnen gilt dies analog) häufig so inszeniert, dass sie primär als Frau, Blickfang und Sexualobjekt und erst in zweiter Linie als die kompetenten Musikerinnen wahrgenommen werden, die sie sind. Konkret belegte Gerischer mit Ausschnitten aus Interviews mit Schlagzeugerinnen und Perkussionistinnen der aktuellen Szene (Mareike Wiening, Sasha Berliner, Kalia Vandever), dass weder die Zeiten der Diskriminierung auf Grund des Geschlechts vergangen sind, noch jene des plumpen Anbaggerns. Und dass Frauen, um für das was sie tun, anerkannt zu werden, darin noch immer wesentlich besser sein müssen als ihre männlichen Kollegen, Mitbewerber, Konkurrenten. Wovon die interviewten jungen Schlagzeugerinnen aber auch berichten, das sind Agenten der Selbstheilung in der Szene, bereits etablierte Musiker und Musikerinnen mit fest geknüpften Netzwerken, die jüngeren Kolleginnen, von deren musikalischer Qualität sie überzeugt sind, als Mentoren mit Rat und Tat (und Weiterempfehlungen) unterstützend zur Seite stehen.

Mit sehr persönlich angelegten Beiträgen verschoben zwei aktive Musiker den Fokus der Tagung ein großes Stück weiter in Richtung Konkretion. Im Gespräch mit Arne Schumacher berichtete die Saxofonistin Holly Schlott, die man bis 2018 als Volker Schlott beispielsweise aus dem Saxofonquartett Fun Horns kannte, von der Prozesshaftigkeit ihrer Geschlechtsangleichung, die sie nicht als einen Sprung zwischen zwei binären Zuständen, männlich/weiblich, versteht, sondern als eine Ausweitung ihres Rollenrepertoires, die sie heute mit großer Emphase als durchaus lustvoll und bereichernd beschreibt. Obwohl die Geschlechtsangleichung ohne Zweifel eine starke Veränderung der empfundenen Identität bewirkt, ist sie für Schlott nicht mit einer Abspaltung ihrer vorherigen Lebensgeschichte als Mann verbunden, entsprechend gelassen reagiert sie, wenn sie als „Volker“ angesprochen wird oder verwendet auf aktuellen CD-Veröffentlichungen beide Vornamen. Allerdings verschweigt die Saxofonistin keineswegs, dass sie sehr lange gezögert habe, bis sie erst an der Schwelle zur Beendigung ihres sechsten Lebensjahrzehnts ihr öffentliches Geschlecht an das schon sehr lange empfundene angeglichen habe. Und dass sie sich sehr gewundert habe, dass es in der Jazzszene, sehr wenig Reaktionen auf ihre Geschlechtsangleichung gegeben habe, weder negative noch positive, was sie selbst mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen habe. 

Fernab von den binären Schattenspielen um gender, race, class, etc, die so häufig die Debatten um Identitäten prägen, demonstrierte der Pianist Sebastian Sternal auf der instrumentaltechnischen Mikroebene, wie man als Musiker aus dem Studium seiner Vorbilder ein Vokabular von melodisch, harmonisch, rhythmischen Kurzformeln für den Zweck der Improvisation entwickeln kann, das sich einerseits direkt aus dem Strom der Jazztradition (oder potentiell auch jeder beliebigen anderen Tradition) speist, und andererseits durch die persönlichen Vorlieben gefiltert und damit höchst individuell ist. Den grundlegenden Stimmerwerb im Sinne des Erwerbs einer eigenen, unverwechselbaren (Instrumental-)Stimme als Musiker verlegt er damit in den Bereich einer sozusagen bewusst gesteuerten Entwicklung von kleinen und kleinsten musikalischen Sinnpartikeln, die man eher als Silben oder Phoneme verstehen könnte, denn als Worte, Sätze, Absätze.

So sehr im Verlauf der 43. RJR-Tagung deutlich wurde, dass vor allem das Identitätsmerkmal Gender im deutschen Jazz des Jahres 2022 noch immer von großer Bedeutung für die Zugangsregelungen ist, (andere Identitätsmerkmale wie Hautfarbe, Religion, Bildungsgrad, soziale Herkunft, etc. wurden – wenn überhaupt – nur en passant thematisiert), so deutlich wurde auch, dass mit der Thematisierung von identitätsbezogenen Diskriminierungen allein, kaum wesentliche Fortschritte in Sachen Chancengerechtigkeit und Niedrigschwelligkeit zu erzielen sind. Zwar könnten Quotenlösungen möglicherweise ein anderes, diverseres und damit auch inklusiveres Binnenklima in der Jazzszene befördern, doch um wirklich näher an den Idealzustand einer Farbenblindheit in Sachen Identitätsmerkmalen heranzurücken, wäre es notwendig, auf der Ebene des konkreten Handelns Vorgehensweisen wie beispielsweise Blind Auditions bei Besetzungsfragen zu entwickeln, die Vorurteile weitgehend ausschließen. Mit der enormen Spannung zwischen der philosophischen Ebene der Begriffsklärung, in der die Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung über Fragen der Identitäten selbst bisweilen ins Schwimmen geraten kann und der von Sternal vorgestellten praktischen Ebene, auf der die Selbstkonstruktion von Identitäten jede Transzendenz abstreift und sich als eine sehr kleinteilige Arbeit an den Details des eigenen musikalischen Vokabulars erweist.

43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz

In Zusammenarbeit mit dem „Jazzpool Lübeck e.V.“ im Rahmen des Travejazz-Festivals.

Wer bin ich? So einfach sie syntaktisch auch sein mag, ist die Frage nach dem, was jede Einzelne der Milliarden Menschen im Innersten ausmacht und sie von all den anderen unterscheidet, die Frage aller Fragen, diejenige, der sich jede und jeder zu stellen hat. Bin ich Mensch oder Cyborg, Tier oder Maschine? Mann oder Frau oder etwas ganz anderes? Alt oder jung, groß oder klein, rank oder dürr, stämmig oder etwas korpulenter? Ist meine Haut heller oder dunkler, mein Pass rot oder blau, grün oder gelb? Meine Religion mono oder poly oder vielleicht gar gänzlich agnostisch? Die Frage nach der Id-Entität, einer unabänderlich stabilen, an essentielle Eigenheiten gebundenen Grundlage einer Persönlichkeit, hat derzeit Konjunktur. Ist gleichermaßen Ansatzpunkt für politisch motivierte Ausschlüsse nach sozialen, genderpolitischen, rassistischen Kriterien, wie für die politische Kritik an solchen Ausschlussmechanismen.

Dabei ist unstrittig, dass das soziale und wirtschaftliche, spirituelle und kulturelle Umfeld, in dem man aufwächst, dass Klima, Ethnizität, Geschlecht, Sprache und noch viele weitere Faktoren Spuren und Narben in jedem und jeder einzelnen hinterlassen, tiefe Spuren, die sich bis in körperliche Codes einschreiben können. Und dass sich im hyperkomplexen Zusammenspiel einer infiniten Anzahl determinierender Faktoren möglicherweise so etwas wie ein mentaler Fingerabdruck der Persönlichkeit darstellen lässt.

Gerade im Jazz, der seine Entstehung einem kulturellen Verschmelzungsprozess verdankt, der die (von der Gewalt der Sklaverei und einem enormen Machtgefälle geprägte) Begegnung von Migrantengruppen aus Europa und Afrika auf amerikanischem Boden in eine neue, hybride musikalische Form übersetzte, in der Elemente musikalischer Praktiken aus den verschiedenen Herkunfts-Kulturkreisen legiert sind, hat die Frage nach der Identität jeder einzelnen Musikerin, nach ihrer unverwechselbaren, einzigartigen Stimme, ein sehr hohes Gewicht.

Zugleich stellt sich eine weiterführende Frage: Ist der Singular für die Frage nach der Identität einer Person die angemessene Dimension? Müsste man in den zunehmend komplexer gewordenen Gesellschaften, die jeden einzelnen mit zunehmend komplexeren Rollenanforderungen und Interaktionen weit über die Grenzen der eigenen Sozialisation hinaus konfrontiert, nicht das Konzept der Identität zumindest in den Plural erweitern: IDENTITÄTEN?

In seiner 43. Arbeitstagung umkreist Radio Jazz Research das Thema Identität in verschiedenen Radien. Die Palette reicht dabei von dem Thema Nachwuchsförderung über Fragen Geschlechterdisparität und nach dem Ausschlussfaktor Queerness, bis hin zu allgemeineren Diskussionen des Begriffs Identität und seiner Ausweitung im Anschluss an das Konzept der Transkulturalität, den der Philosoph Wolfgang Welsch zur Debatte stellte. Eine besondere Rolle spielt schließlich der Pianist Sebastian Sternal mit seinem Versuch, am Flügel ganz praktisch die Komplexität seiner Arbeit an einer Bestimmung einer Identität zu demonstrieren.

Text: © Stefan Hentz, Juni 2022
Bild: © Maximilian Busch, September 2022


43. RJR-Tagung: Identitäten im Jazz
8.-10. September 2022

PROGRAMM:
Programm: Bernd Hoffmann/Peter Ortmann
Moderation: Michael Rüsenberg

9. September:

ORT: Europäisches Hansemuseum, Lübeck (An der Untertrave 1):

9.30 Begrüßung: Stadtpräsident der Hansestadt Lübeck Klaus Puschaddel, Kultursenatorin Monika Frank, Jazzpool Lübeck Sven Klammer, Vorstand RJR Dr. Bernd Hoffmann

10.00 Michael Rüsenberg:
Identität? – Transkulturalität!
Ein paar philosophische Gedanken, eingesammelt bei Wolfgang Welsch

11.00 André Doehring:
„They say I’m different“: Identitäten im und für den Jazz erkennen, verstehen und fördern

12.00 Christiane Gerischer: 
Die Bedeutung des Mentoring für Frauen im Jazz am Beispiel von Schlagzeugerinnen

15.00 Holly Schlott, Saxofonistin/Komponistin aus Berlin, im Gespräch mit Arne Schumacher

16.00 Arvid Maltzahn / Peter Ortmann:
Jazz-Nachwuchs-Förderung am Beispiel von Jugendjazzorchestern und Jugend-jazzt-Wettbewerben

17.30 RJR-Mitgliederversammlung

10. September:
ORTE: Musikschule Lübeck / Europäisches Hansemuseum, Lübeck:

9.30 Sebastian Sternal (Musikschule):
«Do I have a voice?“ Die Suche nach der eigenen Stimme – Personalstile im Jazz

11.00 Oliver Weindling:
Political Identity in Jazz. A curse or a blessing?

12.00 Zur Abbildungen von Identitäten.
Round Table mit Andreas Felber, Lena Jeckel, Urs Johnen.
Moderation: Arne Schumacher

ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN

Jazz Re:Search in 21st-Century Academia and Beyond

Dear presenters,

We are very pleased to announce that our conference “Jazz Re:Search in 21st-Century Academia and Beyond” will take place as a live conference from June 9 to 12 2022 – a very warm welcome to everyone who will join us in Graz! Here is the revised schedule.

We would like to remind you that conference registration is now open. If you have not already registered, we kindly ask you to do so following this link: https://www.aanmelder.nl/128370/admin/registrationform

After more than two years of the pandemic, we are determined to host a face-to-face conference – with the aim of “bringing researchers together”, to quote the Rhythm Changes motto. Nevertheless, the pandemic has not (yet) vanished, so we plan to stream parts of the conference (including both keynotes as well as selected sessions) via Zoom for participants unable to attend due to health issues. Currently, we are working on technical solutions to enable interaction between presenters and audiences on-site and online. More information about online modalities will follow, also concerning the registration to a reduced fee.

Furthermore, we can inform you that most COVID regulations are suspended in Austria. There are no restrictions for bars and restaurants in Graz, at KUG wearing a face mask is recommended. In due time, you will receive an update concerning the current regulations.

We are very looking forward to meeting you all in June!

With warm regards

Benjamin Burkhart and Philipp Schmickl (on behalf of the conference organizing team)

Schaffhauser Jazzfestival 11.-15. Mai 2022 – Einladung (streaming)

New Way of Streaming! Unser Statement.

Wir haben wieder einen Livestream eingerichtet und streamen alle Konzerte und Interviews und Magazinformate wie auch die Jazzgespräche in HD Qualität.. Der Livestream der Konzerte haben wir neu hinter eine Paywall gestellt und können dank der Unterstützung von Bund und Kanton plus dem Migros Kulturprozent den Musiker*innen 85% der Einnahmen weitergeben. Also vom Konzert was CHF 10.- kostet bekommt die Band CHF 8.50 vom ersten Stream an. So, denken wir, sollte der Stream für Jazz und nicht kommerziellen Mainstream funktionieren. Wir wollen einen ersten Schritt machen das die Musiker*innen auch etwas bekommen für ihr Streamkonzert und dass die Zuschauer*innen ersten merken dass der Stream wie das richtige Konzertticket etwas kostet und zweitens damit nicht eine «Billigplattform» zuerst all ihre Kosten plus die Aktionäre bedient, bevor die Musiker*innen nach x Millionen Clicks etwas abbekommen.

Here you go:

All info’s off the Festival is attached in the program booklet (in german) and here www.jazzfestival.ch .

The program:

Mittwoch 11.5.

20.15 Uhr Obradovic – Tixier Duo (www.ladaobradovic.com)
Lada Obradovic dr, pc, voc, comp, David Tixier p, keyb, comp
Das «Obradovic-Tixier Duo» ist eine Zusammenarbeit zwischen der Kroatischen Schlagzeugerin Lada Obradovic und dem Französischen Pianisten David Tixier. Polyrhythmische Schichten, verflochten mit anspruchsvollen Harmonien und gerissenen Polymetrien, dienen als Quelle für die Überlieferung der von Emotionen und Eleganz geleiteten Musik. In Bern ausgebildet, ist Lada auf den europäischen Festivalbühnen sowie auch als Schlagzeugerin und Schauspielerin in der Netflix Serie «The Eddy» zu sehen. 

21.30 Uhr Niklaus Troxler / Manuel Troller (www.troxlerart.ch, www.manueltroller.com)
Niklaus Troxler Tape Performance, Manuel Troller g

Im künstlerischem Austausch mit dem Luzerner Gitarristen und Schweizer Musikpreisträger Manuel Troller, lässt Troxler am Eröffnungsabend eines seiner Tape-Bilder live vor den Augen des Publikums entstehen.

22.15 Uhr Nils Wogram Muse (www.nilswogram.com

Nils Wogram tb, Kathrin Pechlof hp, Gareth Lubbe vla, vl, Obertongesang, Hayden Chisholm as,

Ganz oder gar nicht! Keine halben Sachen! Wo sich im Lauf ihrer Karriere bei vielen anderen Künstlern Routineabnutzungen bemerkbar machen, reift in Nils Wogram die Erkenntnis, dass jedes neue Projekt zugleich sein erstes Projekt ist. Ganz besonders spürbar ist das mit seiner neuen Band «Muse». Die Musik mag komplex sein, doch ist ihre immanente Schönheit und Freundlichkeit bei aller formalen Strenge auch für die Zuhörenden enorm entspannend. Klang ist die entscheidende Komponente, jeder Ton zählt. 

Donnerstag 12.5 

20.15 Uhr Humair/Blaser/Känzig (www.samuelblaser.com)
Samuel Blaser tb, Daniel Humair dr, Heiri Känzig b

Drei Generationen von Schweizer Spitzenjazzern aus drei verschiedenen Landesteilen; Blasers kräftiger Ton und seine weit ausschweifenden Improvisationen werden umrahmt vom organischen Tumult des ineinandergreifenden Rhythmus von Känzig und Humair. Zwischen Atem, Saiten und Sticks, Slides, Holz und Fellen entsteht eine Alchemie, die durch Inspiration und Kreativität den Klang in Momente purer Poesie verwandelt. 

21.15 Uhr Florian Favre «Idantitâ» (www.florianfavre.com)
Florian Favre p

Mit Idantitâ lässt Florian Favre die traditionelle Musik seiner Heimat, der Region Freiburg, neu aufleben. Es sind Geschichten von Elfen, Bergen, Exil, naiver Schönheit, Geschichten über ein schönes Land und einer kollektiven Vorstellung davon. Favre lässt daraus stimmungsvolle, lyrisch bis kraftvolle Klavier-Musik entstehen, die in ihrer unaufdringlichen Schönheit charakteristisch ist für den Freiburger Pianisten. 

22.00 Uhr Gauthier Toux «For a Word» (www.gauthiertoux.com)

Gauthier Toux p, Valentin Liechti dr, Julien Herné b, Léa Maria Fries voc

Gauthier Toux huldigt in seinem abenteuerlichen neuen Quartett «For A Word» der Macht des Wortes. Die Formation, anlässlich einer Carte Blanche am Cully Jazzfestival 2017 gegründet, ziseliert Melodien ebenso wie die Stille und behandelt die Stimme wie ein Instrument. Die Band bietet Jazz-Eskapaden, Pop-Höhenflüge und Klangnebel. Atemberaubend und brillant. 

Freitag 13.5 

20.15 Uhr Andrina Bollinger Trio (www.andrinabollinger.com)

Andrina Bollinger voc, p, g, Jules Martinet b, Arthur Hnatek dr

Andrina Bollinger steht für immer wieder überraschende Bühnenperformances: Mal tritt sie als Schloss auf, dann als Turrells Skyspace, oder sie gibt sich als innerer Ozean zu erkennen. Alle diese Räume erforscht und bespielt Bollinger mit ihrer Stimme – sie schreit, summt, spricht, schnauft darin. Bisher vor allem Solo und in verschiedenen Duo-Konstellationen zu sehen, präsentiert Andrina Bollinger ihr neues Trio mit Arthur Hnatek am Schlagzeug und Jules Martinet am Bass.  

21.15 Uhr This is Pan (www.thisispan.com)

Matthias Kohler as, comp, Lukas Thoeni tp, Dave Gisler g, André Pousaz b, Gregor Hilbe dr

«This Is Pan» präsentiert sich mit geballten Pferdestärken, viel Verve und einem druckvollen, unverkennbaren Bandsound. Das neue Programm «Animal Heart» widmet sich ganz und gar den Lieblingstieren von Bandleader und Saxofonist Matthias Kohler – im Kern geht es aber um Empathie und Menschlichkeit. Detaillierte, der Song-Form verpflichtete Kompositionen und starke Solos zeichnen die Band aus.  

22.15 Uhr LIUN + THE SCIENCE FICTION ORCHESTRA (www.luciacadotsch.com)

Lucia Cadotsch voc, Wanja Slavin fl, cl, sax, synth, Magnus Schriefl tp, Kati Brien fl, cl, as, Florian Trübsbach fl, cl, ts, Johannes Lauer tb, Shannon Barnet tb, Mark Pringle p, Matthias Pichler b, Fabian Rösch dr

Gemeinsam mit dem Berliner Saxofonisten und Komponisten Wanja Slavin schlägt Lucia Cadotsch ein ganz neues Soundkapitel auf: Urbane Musik mit dunklen Beats, schillernden Synths und pulsierenden Hooklines. Der Sound von LIUN + The Science Fiction Orchestra ist so eigensinnig und betörend, wie nur die Zukunft klingen kann. LIUN kreiert eine phantasmagorische Welt, eine Synthese aus digitalen und analogen Elementen, und – im Zusammenschluss mit dem Ensemble – eine Welt, die hineinführt in ungeahnte, noch nie gehörte Klang-Dimensionen. 

Samstag 14.5.
20.15 Uhr Leipold / Bucher / Lo Bianco (www.samuelleipold.com)
Samuel Leipold g, Jürg Bucher cl, Luca Lo Bianco b

Mit dem sizilianischen Kontrabassisten Luca Lo Bianco, dem Berner Jürg Bucher an der Klarinette und dem Luzerner Gitarristen Samuel Leipold treffen sich drei Musiker mit musikalischem Tiefgang. Sie kreieren kammermusikalische Musik, in der die verschiedenen Schattierungen in den Klangfarben der Instrumente ausgelotet werden. Leipolds songhafte bis abstrakte Kompositionen werden in den grösseren musikalischen Bogen eingebunden und dienen als Start oder Endpunkt für gemeinsame Improvisationen. 

21.15 Uhr Sarah Chaksad Large Ensemble (www.sarahchaksad.com)

Yumi Ito voc, Sarah Chaksad as, ss, comp, Fabian Willmann ts, bcl, Catherine Delaunay cl, bs, thn, Fernando Brox fl, Hildegunn Øiseth tp, goat hn, Lukas Wyss tb, Paco Andreo vtb, Sophia Nidecker tub, Fabio Gouvêa g, Julia Hülsmann p, Dominique Girod b, Eva Klesse dr

Sarah Chaksad überrascht mit Kompositionen für eine neue, 13-köpfige Band: Ihr hellwaches Large Ensemble hat sich die Saxofonistin und Komponistin sorgfältig mit erlesenen deutschen, französischen und Schweizer Musikerinnen und Musikern, einer Norwegerin und einem Brasilianer zusammengestellt. Das Resultat unterscheidet sich, auch wenn die Handschrift der Komponistin gut hörbar bleibt, von früheren Projekten. Sarah schafft mit ihrem Large Ensemble einen Reichtum an Farben und Stimmungen wie noch nie. Die Musik ist offener und riskanter, ohne je an Fluss und Drive oder Intensität zu verlieren. 

22.15 Uhr District Five (www.districtfive.band)

Tapiwa Svosve as, synth, voc, Vojko Huter g, voc, Xaver Rüegg b, Paul Amereller dr

District Five durchbrechen die Grenzen der Generationen. Math-Rock, Post-Punk, Jazz, Electronica, Filmmusik: So lauten die Eckpfeiler eines neuen Sounds, mit dem die vier Zürcher Vordenker festgesessene Stilbegriffe endgültig verlassen und ihre eigene Avantgarde zu bilden beginnen. Diese Musik heisst nicht mehr Jazz, bedeutet aber auch nicht Pop. Nein, vielmehr ist es ein Prozess vom Finden neuer Freiheiten und setzt zugleich ein Zeichen ungemeiner Diversität sowie langjähriger Freundschaft. Oder in den Worten der Band: «Searching together through music for something like freedom in a trapped world».

42. RJR Arbeitstagung in Graz | Sozialgeschichte im Jazz – In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost (1938-2017)

Graz, 09. – 11. Juni 2022

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz.
Moderation: Michael Rüsenberg

Für die 42. RJR-Tagung: Sozialgeschichte im Jazz – In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost (1938-2017) hat unser Kollege Constantin Sieg das beigefügte Interview bereitgestellt. Dieses Jost-Interview fand am 14.08.2011 (22-24.00 Uhr) in der wöchentlichen Sendung „Jazz-Zeit“ statt.

https://drive.google.com/file/d/1Mjf119s0E_fCtqHdumj-kjnGwlUbyWH6/view?usp=sharing

Als in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Fundamente für Jazzforschung auch im deutschsprachigen Raum gelegt wurden, kam ein Grundstein in Graz, wo 1965 eines der ersten Institute in diesem Fach gegründet wurde, zu liegen und ein zweiter in Gießen, wo Ekkehard Jost (1938-2017) im Jahr 1973 zum Professor berufen wurde. Jost hatte im gleichen Jahr mit seiner Habilitationsschrift, der weltweit ersten musikwissenschaftlichen Untersuchung des „Free Jazz“, die bis dato vorherrschende musikwissenschaftliche Analyse durch sozialgeschichtliche Argumente erweitert und mit seinem Werkzeugkasten, in dem soziologische und historische Blickwinkel ebenso selbstverständlich enthalten waren wie psychologische oder physikalische, einem neuen, interdisziplinär geprägten Konzept der Musikwissenschaft jenseits des klassischen Kanons zum Durchbruch verholfen.

Bei allem Fortschritt, bei aller thematischen und methodischen Ausdifferenzierung, die das Fachgebiet Jazzforschung seither begleitet, ist Jost dem Institut seiner Grazer Kollegen bis an sein Lebensende verbunden geblieben, so verbunden, dass er bestimmte, dass sein musikwissenschaftlicher Nachlass an der Kunstuniversität Graz aufbereitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Die Feier zur offiziellen Eröffnung des Archivs ist der formale Höhepunkt der 42. Arbeitstagung des Netzwerks „Radio Jazz Research“ zum Thema „Sozialgeschichte im Jazz. In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost“. Zusammen mit dem Fachbereich Jazzforschung an der Kunstuniversität Graz hat Radio Jazz Research ein Tagungsprogramm zusammengestellt, das die Feier zur Archiv-Eröffnung aus unterschiedlichen Perspektiven ins Visier nimmt. Im Zentrum die kämpferische Wissenschaftler- und Musiker-Persönlichkeit Ekkehard Jost und die Musik, die er zu seiner machte: der Free Jazz. Eher persönlich geprägt ist der Ausgangspunkt des Vortrags des Gießener Journalisten Hans-Jürgen Linke, der zum Auftakt die Wirkungsmacht von Josts Schaffen in Sachen Musik, Forschung und Kulturpolitik in Gießen nachsinnt, während André Döhring, ein früherer Student und Mitarbeiter von Jost in Gießen, der heute den Fachbereich Jazzforschung an der Kunstuniversität Graz leitet, bei seiner Analyse die Wirkmacht der Forscherpersönlichkeit Jost fokussiert. Aus philosophischer Perspektive diskutiert der Turiner Professor Alessandro Bertinetto den Begriff der ästhetischen Freiheit, den Jost in seiner Habilitationsschrift „Free Jazz“ mitentwickelt, Gerd Putschögl wendet Josts sozialhistorischen Blick auf aktuelle Tendenzen der Verbindung von Jazz und Flamenco an, Bernd Hoffmann richtet seinen Blick darauf, wie in den 1950-Jahren in außermusikalischen, journalistischen, musiktheoretischen oder fiktionalen Beiträgen zum Jazz-Diskurs in Text, Hörfunk oder Film anhand der Gegenüberstellung von Unterhaltungsfunktion und Kunstanspruch Mythologisierungen vollzogen werden. Klaus Frieler zeigt mit seinen Analysen neue Perspektiven der Jazzforschung auf.


42. Radio Jazz Research-Tagung in Graz
Sozialgeschichte im Jazz – In Erinnerung an den Musiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost.

GRAZ, 9.-11. Juni 2022

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
Moderation: Michael Rüsenberg

Hans-Jürgen Linke (Gießen)
Ekkus: Regionale Szene, internationaler Ruf: Ekkehard Jost in Gießen

André Doehring (Graz)
(Bei) Jost studieren: Von der Person über die Institutionen zur Fachgeschichte

Alessandro Bertinetto (Turin)
Free Jazz: Eine konkrete Form ästhetischer Freiheit

Gerhard Putschögl (Bad Rappenau)
Ekkehard Jost und die „Spanische Kultur“

Bernd Hoffmann (Köln)
Satchmo Ost – Satchmo West. Louis Armstrong, Begegnungen in deutschen Wochenschauen der 1950er und 1960er Jahre

Klaus Frieler (Frankfurt)
Jazz und Big Data: Was können uns Korpusstudien über den Jazz erzählen?

ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN

Hans-Jürgen Linke (Gießen):

Ekkus
Regionale Szene, internationaler Ruf: Ekkehard Jost in Gießen

Die erste und für lange Zeit einzige Free Jazz Formation im Mittelhessischen hieß Grumpff und wurde gegründet von Ekkehard Jost. Das geschah kurz nach Antritt seiner Musiksoziologie-Professur an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Ekkehard Jost hat die Stadt Gießen nie besonders gemocht und gehörte zu den Unruhegeistern am Institut, an das er über Jahrzehnte eine bestimmte Art von Musikern lockte. Als Lehrender, als Musiker und Publizist, als monothematisch agierender lokaler Kulturpolitiker, Mitbegründer der Jazzinitiative Gießen und der Jazzakademie Hessen und als privater Mensch war er in der Stadt und an der Universität der wohl zugkräftigste Kristallisationskern der regionalen Jazz-Szene. Immer wieder hat er mit seinen Studenten Bands gegründet. In den neunziger Jahren begann er sich in kleinen Schritten aus der lokalen Szene zurückzuziehen, hatte eine feste Bands fast ohne Gießener Musiker und markierte seine Ambitionen als Jazz-Komponist unter anderem mit zwei auch politisch grundierten größeren Projekten.

André Doehring (Graz): (Bei) Jost studieren. Von der Person über die Institutionen- zur Fachgeschichte

Der Vortrag „(Bei) Jost studieren.“ hat zwei Erkenntnisziele: Zum einen wird der Teil „Bei Jost studieren“, basierend auf eigener Erfahrung und objektiviert durch eine Curriculumsanalyse Gießener Studienordnungen, untersuchen, wie sich Sozialgeschichte bei Ekkehard Jost als Forschungs-, aber auch Lehrhaltung niederschlug. Zum anderen wird der Teil „Jost studieren“, basierend auf ersten Sichtungen des in Graz angesiedelten Jost-Archivs, die Josts Eingebundensein in strukturelle, musikalische und musikpolitische Zusammenhänge des Jazz zeigen, Möglichkeiten der künftigen fachgeschichtlichen Erforschung deutschsprachiger Jazzforschung erörtern.

Alessandro Bertinetto (Turin):
Free Jazz: Eine konkrete Form ästhetischer Freiheit

Der Ausdruck «Free Jazz», der auch der Titel des unvergesslichen Buches von Ekkehard Jost ist, unterstreicht die Rolle der Freiheit in der musikalischen Praxis. Die These, dass ich in meinem Vortrag untersuchen möchte, ist, dass dieser Ausdruck den paradigmatischen Charakter suggeriert, den Improvisation für die Kunst als solche hat. Um diese These zu argumentieren, möchte ich zunächst auf die Rolle des Freiheitsbegriffs in den ästhetischen Vorstellungen der wichtigsten Vertreter der “Klassischen Deutschen Philosophie” (Kant, Fichte, Schiller und Hegel) eingehen. Es soll gezeigt werden, dass die Kant’sche These vom «freien Spiel» der kognitiven Fähigkeiten, die Fichtesche Konzeption der ästhetischen Haltung als Übergang zur transzendentalen Standpunkt, die Schiller’sche Identifikation von ästhetischem Schein und Freiheit und das Hegelsche Argument, wonach die Kunst den Menschen von der Sinnlichkeit im Bereich der Sinnlichkeit selbst befreiet, alle Ausdrucken einer ästhetischen Orientierung sind, wonach nicht Imitation, sondern Kreativität der authentische Kern der Kunst ist. Ich werde diese Idee in Bezug auf improvisierte Musik aufgreifen. Dabei werde ich argumentieren, dass Improvisation – als künstlerische Auseinandersetzung mit Kontingenz – die konstitutive Rolle performativ darstellt, welche die ästhetische Freiheit fürs ästhetische Gelingen spielt.

Gerhard Putschögl (Bad Rappenau):
Ekkehard Jost und die „Spanische Kultur“

Insbesondere in seiner Komposition für Jazzorchester „Cantos de Libertad“ und in seinem Artikel „Flamenco Nuevo? Stilistische Tendenzen im Flamenco der Gegenwart“ zeigt Ekkehard Jost ein lebendiges Interesse an der Musik und Kultur Spaniens. Vor allem seine kritische Sichtweise zu einem verkommerzialisierten „Pop-Flamenco“ soll hier Ausgangspunkt meiner Betrachtungen werden, die insgesamt ein Resümee der zeitgenössischen Entwicklung des Flamenco-Jazz beinhalten und die Stilcharakteristika der wichtigsten Protagonisten beleuchten.

Bernd Hoffmann (Köln):
Satchmo Ost – Satchmo West. Louis Armstrong, ein Botschafter auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

Die Rezeption und Wertschätzung des Trompeters Louis Armstrong geht während den 1960er Jahren ganz unterschiedliche Wege in beiden deutschen Staaten. Einerseits symbolisiert Armstrong das Zentrum des traditionellen Jazzgeschehens in den USA. Er ist Orientierung für zahlreiche Jazzfans, vor allem in Europa, für Fans, die die modernen Spielarten des Jazz ignorieren. Andererseits faszinieren sein souveräner Umgang mit populären Musikformen wie seine Auftritte im westdeutschen Schlagerfilm. Zusätzlich verspricht seine Funktion als „Jazz Ambassador“ der USA ein reges Wechselspiel der Perspektiven – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.    

Klaus Frieler (Frankfurt):
Jazz und Big Data: Was können uns Korpusstudien über den Jazz erzählen?

Big Data hält auch in den Geisteswissenschaften unter dem Schlagwort der Digital Humanities verstärkt Einzug, das gilt auch für die Jazzforschung, wenn auch bisher in geringerem Umfang. Die Anwendung statistischer Methoden in einer traditionell hermeneutisch auf Einzelwerke und -künstler ausgerichteten Disziplin bleibt allerdings nicht ohne Widerstand. In diesem Beitrag soll anhand aktueller Beispiele versucht werden zu zeigen, dass Daten-orientierte Forschungsansätze nicht im Widerspruch zu herkömmlichen Methoden stehen, sondern – im Gegenteil – neue Sichtweisen auf Altbekanntes bieten können, die das Gesamtbild produktiv bereichern, ergänzen und erweitern. Zudem erlauben derlei Methoden neue Fragen aufzuwerfen, die ohne sie vielleicht nicht zufriedenstellend beantwortet werden könnten.


Bildinformationen: ©Alexander Wenzel/KUG