ZWISCHEN OPTIMISMUS UND DYSTOPIA – LABELS IM DIGITALEN ZEITALTER
Ein Tagungsbericht von Stefan Hentz
„Labels im Jazz – Vergangenheit und Zukunft“ – die 36. Arbeitstagung von Radio Jazz Research am 3. und 4. Januar 2019 in Münster
Lange Zeit prägten
sie als Gatekeeper das jeweils aktuelle Gesicht des sich entfaltenden Jazz. Labels
waren das Warenzeichen, das einen verlässlichen Geschmack, eine verlässliche
Qualität verbürgten, und zugleich standen sie für den Willen zur Dauer, für die
Entschlossenheit, über tagesaktuelle Hits und Trends hinaus ein mehr oder
weniger breit gefächertes Labelprogramm aufzubauen und der – durchaus auch
ökonomischen – Kraft dies auch zu tun. Geführt von leidenschaftlichen Gründern
und Eigentümern (oder manchmal auch angestelltem Leitungspersonal) bieten
Labels den Musikern ihres Vertrauens die Möglichkeit, ihre Pläne zu
verwirklichen und ihre Musik zu veröffentlichen. Labels unterstützen bei der
Realisierung dieser Pläne und bei der Entwicklung von Strategien das
vorliegende Produkt zu den Interessenten, zu Hörern und Multiplikatoren zu
bringen, helfen, kommerzielle Misserfolge zu verdauen und setzen mit ihrer
Auswahl dessen, was sie fördern, bis heute die Standards dessen, was hip und
heiß ist im Jazz. Manche Phasen und stilistische Zweige der Jazzgeschichte sind
so eng mit der Arbeit bestimmter Labels verknüpft, dass der Labelname fast
schon zum Synonym für bestimmte Klangvorstellungen geworden sind: Blue Note
oder Prestige, Impulse oder ESP, Intakt oder FMP oder ECM – die Liste bleibt
offen.
Mit dem Prozess
der fortschreitenden Konzentration der Musikindustrie, tritt allerdings die
Bedeutung der Labels, von denen viele mittlerweile als Untereinheiten der
großen Unternehmen nur noch wenig mehr behalten haben als den vertrauten Namen,
etwas zurück, und während im Wandel der Speicher- und Abspieltechnologien das
Handelsgut der Labels, die Musikaufnahme, auf immer wieder neuen Tonträgern
vertrieben wird, stellt sich nach der Schallplatte (in Schellack und später
Vinyl), der digitalen Speicherung auf CD, dem Verzicht auf einen physischen
Tonträger im Downloading nun mit der Durchsetzung der Streamingtechnologie für
Labels die Existenzfrage verschärft neu. Streaminganbieter wie Spotify, Deezer,
Apple, Amazon, usw. halten ein riesiges Repertoire an Musikstücken vieler stilistischen
Richtungen vor, und „intelligente“, „lernfähige“ Algorithmen werfen Playlists
aus und Empfehlungslisten, die sich aus Daten über die Nutzungspräferenzen ableiten.
Im Zeitalter der Digitalisierung scheint es nur noch für die ganz wenigen
Hitproduzenten unter den Musikern möglich, mit dem Verkauf ihrer Musik das angestrebte
„gute“ Leben zu erwirtschaften. Grund genug also für RadioJazzResearch seine
36. Arbeitstagung am 3. und 4. Januar 2019 in Münster mit dem Thema „Labels im
Jazz – Vergangenheit und Zukunft“ zu überschreiben und sich in einer Reihe von
Gesprächsrunden mit Vertretern sehr verschiedenartiger gegenwärtiger Labels,
großer wie kleiner, alteingesessener und noch recht junger,
mainstreamorientierter wie sehr zugespitzt künstlerisch konturierter Labels
entschlossen sehr verschieden gepolten Blicken nach vorne zu widmen.
Den Auftakt bestritt
Michael Rüsenberg mit „Die 10. Sinfonie von Beethoven“ – seiner medienkritischen
Betrachtung der internationalen Rezeption von John Coltranes Album „Both Directions
at Once: The Lost Album“, einer Zusammenstellung von sieben bisher
unveröffentlichten und lange Zeit in Vergessenheit geratenen Aufnahmen des
klassischen John Coltrane Quartet aus dem März 1963, die nie als Album gedacht
waren und schon deshalb nicht als solches „lost“ sein konnten, und im
vergangenen Jahr mit 22000 verkauften Exemplaren allein in Deutschland zu einem
der größten Verkaufserfolge im Bereich Jazz wurde. Erstaunlich, was Journalisten
sich so ausdenken. Für das Tagungsthema relevanter war jedoch der Hinweis von
Astrid Kieselbach, die in Deutschland die Jazz-Abteilung von Universal, neben
Sony, Warner und BMG des vierten der großen Player der Musikindustrie leitet,
dass sich bei einem solchen Klassiker des Genres der Verkaufserfolg ganz ohne
aufwändige Marketing- und Pressearbeit einstellt. Eine Veröffentlichung von
John Coltrane wird einfach unbesehen gekauft, 22.000 mal, damit habe Universal,
so Kieselbach sinngemäß, alle potentiellen Interessenten in Deutschland
erreicht.
In mehreren Podiumsgespräche
mit den Musikern (und Betreibern des musikergeführten Kölner Labels KLAENG)
Pablo Held und Tobias Hoffmann, mit dem Posaunisten, Konzert- und
Festivalveranstalter und Labeleigner Paul Zauner von PAO Records, den beiden
britischen Labelchefs Oliver Weindling, der sein Label Babel Records als
Ableger, Satelliten und gerne auch Schwungrad seines Londoner Clubs The Vortex
betreibt und Dave Stapleton von dem ebenso jungen wie dynamischen britischen
Label Edition Records, wo im vergangenen Jahr auch das Pablo Held Trio sein
jüngstes Album „Investigations“ veröffentlichte, sowie mit Stefanie Marcus, die
als branchenfremde Enthusiastin 1992 in Berlin ihr Label Traumton gründete, das
sie seitdem mit außerordentlichem musikalischem Gespür und viel Geschick leitet,
verdeutlicht Arne Schumacher als Moderator den zupackenden Zukunftsoptimismus
der sehr verschiedenen Labelvertreter, die auf verschiedenen Wegen versuchen,
sich von der allgemeinen Krise der Musikindustrie abzukoppeln. Noch gibt es
Bewegungsspielräume, wer geschickt und wach auf die Veränderungen des Business
reagiert, kann noch sehr viel ermöglichen und erreichen. Der finale Abgesang
auf die sortierende und ermöglichende Funktion der Labels, scheint noch nicht
gesungen.
Mit diesem
Befund neigte sich die Tagung ihrer Coda entgegen, einer spekulativen „kleinen
Polemik“ von Christian Rentsch über die Wirkung, die die veränderten
Hörpraktiken im Zeitalter von digitalen Downloads und Streaming auf die
Produktion von Jazz und improvisierter Musik haben: „Spotify Kills The CD
Stars“. Ausgehend von der musikwissenschaftlich untermauerten Beobachtung, dass
sich im Bereich Pop bereits massive Verschiebungen in der Architektur von
Popsongs ergeben haben, dass Intros immer kürzer werden, Hooklines immer früher
in der Struktur aufscheinen, folgert Rentsch, dass über kurz oder lang, bewusst
oder intuitiv, auch Jazzmusiker zunehmend dazu übergehen werden, ihre Musik
entlang von formalen Tricks, die stärker vom Gesichtspunkt der Verkäuflichkeit
geprägt sind als von ästhetischer Schlüssigkeit, zu strukturieren. Schließlich
sind sie Teilnehmer in einer marktwirtschaftlich organisierten Konkurrenz um
die knappen Ressourcen Aufmerksamkeit und Erfolg. Angesichts der Tendenz des
algorithmisch geprägten Angebotsmanagements der Streamingplattformen, zur
Steigerung der Zielgenauigkeit der Angebote und Vorschlagslisten die
Komplexität der Algorithmen immer weiter zu steigern, sieht Rentsch eine Zeit
heraufziehen, in der die technischen Algorithmen der Streamingindustrie selbst
die Rolle der Labels übernimmt und immer stärker in den Produktionsbereich
eingreifen, bis sie schließlich den Musikern sagen, was sie wie, welche Melodie
über welche Harmoniefolgen in welchen Tempi und Rhythmen
veröffentlichungswürdig (weil nachgewiesenermaßen klickträchtig) sind. Mit
dieser dystopischen Vision einer totalen digitalen Mediendemokratie, setzte
Rentsch einen dunklen Kontrast, der dem plietschfidelen Optimismus der
agierenden Labelmacher erst die nötige Farbtiefe verlieh.
Tagungsprogramm
Donnerstag, 03.01.2019: 14.30 Uhr – 21.00 Uhr
14:30 Uhr Ankunft
14:45 Uhr Begrüßung durch Fritz Schmücker, Stadt Münster, und Dr. Bernd Hoffmann, Vorsitzender Radio Jazz Research
15:00 Uhr Michael Rüsenberg:
„Die 10. Sinfonie von Beethoven“[1] – Zur internationalen Rezeption von John Coltranes The Lost Album
15:30 Uhr Diskussion
15:45 Uhr Pause
16:00 Uhr Label-Talk 01:
Arne Schumacher im Gespräch: Pianist Pablo Held und Labelchef Dave Stapleton (Edition Records)
16:30 Uhr Diskussion
16:45 Uhr Pause
17:00 Uhr Iwan Wopereis:
What Experts think of Improvisation – a survey among RJR Members
17:30 Uhr Diskussion
18:00 Uhr Abendessen
20:00 Uhr Mitgliederversammlung
Freitag, 04.01.2019: 09.30 Uhr – 13.00 Uhr
09:30 Uhr Label-Talk 02: Babel, Pao und Traumton
Mit Oliver Weindling, Paul Zauner und Stefanie Marcus
10:00 Uhr Diskussion
10:15 Uhr Pause
10:30 Uhr „Was können Labels heute leisten?“
Arne Schumacher im Gespräch: Astrid Kieselbach (Universal), Stefanie Marcus (Traumton), Tobias Hoffmann (Klaeng Records)
11:00 Uhr Diskussion
11:15 Uhr Pause
11:35 Uhr Götz Bühler:
Musikmarkt 4.0 – Was bringt die digitale Evolution für den Jazz?
12:00 Uhr Christian Rentsch:
Verändert der digitale Vertrieb den Jazz?
12:30 Uhr Diskussion
13:30 Uhr Mittagessen (Selbstzahler)
[1] SZ vom 9./10. Juni 2019
Foto: Das fürstbischöfliche Schloss, Sitz und Wahrzeichen der Westfälischen Wilhelms-Universität; von Dietmar Rabich, CC-BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35094633