34. Arbeitstagung in Lübeck | 31. Mai bis 2. Juni 2018: Humor im Jazz

Gruppenfoto Lübeck, 01.06.2018

Bernd Hoffmann (Köln)
Das „swingende“ Zäpfchen des Cab Calloway. Humoristische Abbildungen im Musical Short der 1930er Jahre (Klicken für Details)

Mit dem Beginn der Tonfilm-Ära entwickelt sich ein kommerzielles Kurzfilm-Format, das neben anderen journalistischen Themenfeldern auch Repertoire der US-amerikanischen populären Musik abbildet. Die musikalische Bandbreite lässt sich auf bis zu zwanzig stilistische Repertoirefelder differenzieren. Diese Musical Shorts, in ihrer meist zehnminütigen Darstellungspraxis den heuten Videoclips durchaus ähnlich, basieren auf der gleichzeitigen Produktion von Bild und Ton. 14 größere Produktionsfirmen wie Columbia, Educational, Fox, MGM, Paramount, Pathé/RKO, Pathé, Universal und Warner Bros./Vitaphone beliefern bereits 1929 über 5000 Filmtheater der USA mit Tonfilmen.

Ein wenig beachtetes Repertoire im Produktionsfeld der Musical Shorts sind Animationsfilme, die heute teilweise zensiert, einen ausgiebigen Blick auf die problematische Darstellung von Musikerinnen und Musikern jener Zeit erlauben. Sowohl weiße als auch wenige schwarze Improvisatoren werden in ihren Jazz-Präsentationen überzeichnet und karikierend porträtiert. Vor allem bei der Vorstellung afro-amerikanischer Künstlern wie Cab Calloway, Fats Waller oder Louis Armstrong lässt sich ein starker rassistischer Einschlag beobachten: Unter dem Deckmantel des „Humors“  leben die Konventionen des Minstrelsy weiter, deren visuelles Markenzeichen – Blackface – den agierenden Improvisatoren im animierten Musical Short „übergestülpt“ wird. Diese optische Zuschreibung wird durch die teilweise clowneske Rezeption des frühen USA-Jazz verstärkt, die für die 1930er Jahre besonders typisch ist.

Götz Bühler
Der Witz und der Jazz

Konstantin Jahn
Jazzkritik: Jazz und die Humorlosigkeit seiner Anhänger

Odilo Clausnitzer
Vote Dizzy – Dizzy Gillespies Kampagne zur US-Präsdentschaftswahl 1964

Marcus Bartelt
Django Bates und der britische Humor. Eine Erkundung

Michael Rüsenberg
Jazz und Humor – Fundstücke entlang des Weges nach Lübeck


Perspektiven im deutschen Jazz | Diskussionsrunde bei der 33. RJR-Arbeitstagung

In der Gesprächsrunde „Fortschritte – Rückschritte – Perspektiven des deutschen Jazz“ bringt Arne Schumacher drei Protagonistinnen der aktuellen deutschen Jazzszene ins Gespräch, die in Hamburg und Köln ausgebildete Bassistin und Komponistin Hendrika Entzian, die Produzentin Stefanie Marcus von dem erfolgreichen Berliner Label „Traumton“ sowie Lena Jeckel, künstlerische Leiterin des Bunker Ulmenwall in Bielefeld.

Zur Einstimmung: ein Beitrag von RJR-Mitglied Stefan Hentz

Fortschritte – Rückschritte. Perspektiven im deutschen Jazz

Ein Text von Stefan Hentz

Der Fortschritt, sagt man, ist eine Schnecke. Oder vielmehr: ein Krebs. Die Vorstellung zumindest, dass sich die Dinge, die Kunst, Musik, die sozialen und zivilisatorischen Verhältnisse- langsam zwar – nach vorne zum Besseren bewege und immer weiter nach vorne, lässt sich schon lange nicht mehr halten. Der Fortschritt weicht aus, links, rechts, oder geht rasch ein, zwei Schritte zurück, bevor dann wieder einige Schritte voran folgen. Und was in vielen Fragen und Bereichen und im Allgemeinen zu gelten scheint, das gilt auch im Jazz. Da mag man sich im einen Moment über Erreichtes freuen, über plötzliche Akzeptanz, unverhofften Förderungswillen privater oder öffentlicher Hände, echte oder auch nur angetäuschte Sympathiebekundungen von Machtmenschen oder wichtigen Influencern, neue oder zumindest neu strukturierte Auftritts- oder Publikationsorte und/oder -medien und längst abgeschriebene Publikumsströme – im nächsten Moment scheint alles wieder dahin oder schlimmer. Das reale Leben ist verwirrend und ungleichzeitig – auch im Jazz.

Unscheinbare Fort- und scheinbare Rückschritte kennzeichnen in den vergangenen Jahren auch die Entwicklungstendenzen des Jazz in Deutschland. Der Echo Jazz gibt dem Jazz für einen Lidschlag eine ungewohnte Prominenz in der Öffentlichkeit des Fernsehens, wird jedoch von vielen Musikern in der bisherigen Form eher als eine unangenehm paternalistische Form der Zuwendung angesehen, bevormundend und an der präsentierten Musik nicht wirklich interessiert. Doch die widersprüchlichen Bedürfnisse, die in den erregten Debatten über diese Selbstfeier einer Nische der Musikwirtschaft zum Ausdruck drängen, führen nicht zu einer ernsthaften Selbstverständigung über die noch in der Nische ungebrochenen Rollenverteilungen zwischen Männer und Frauen, David und Goliath, zwischen Musikern, Labels und der großen Medienmaschine mit der audiovisuellen Wasserverdrängung, zwischen purem Existenzminimum, prekären Labelexistenzen und den vergoldeten Fassaden der eingebildeten Glamourfabriken. Stattdessen endet die Diskussion als Gegenstand einer wiederum fehlerhaft recherchierten, skandalisierenden Berichterstattung in anderen Medien, TV, Print oder online: Fortschritt? Rückschritt?

Oder wie ist es einzuschätzen, wenn eine in langen Zeiträumen entstandene Förderstruktur in einer Region plötzlich durch unverhoffte Förderungen an einer Stelle in ein neues Gleichgewicht streben, wenn Leuchtturmprojekte entstehen (Köln) oder angestrebt sind, (Berlin)? Welche Folgen haben solche Projekte, die die Wahrnehmung des Jazz zwangsläufig hierarchisieren, für die auf See navigierenden Musikschiffe und für die angrenzenden Küstenstreifen mit ihren bestehenden Clubs und Szene-Institutionen? Wirken sie befruchtend für alle, weil sie helfen veranstalterische Cluster mit den entsprechenden Gravitationskräften zu bilden? Oder strahlen sie so hell, dass alle anderen in Gefahr geraten, überstrahlt zu werden und nicht mehr wahrnehmbar zu sein.

In Deutschland gibt es knapp zwanzig Musikhochschulen, die einen Jazzstudiengang anbieten. Ohne jeden Zweifel ist dies ein Fortschritt. Zugleich ähneln sich diese Studiengänge in ihren jazzpädagogischen Schwerpunktsetzungen und befördern somit eine gewisse Konformität, die möglicherweise die postulierten Ausbildungsziele wieder konterkariert. Auch hier ließe sich beobachten, dass Fortschritt leicht in Rückschritt umschlagen kann.

In der Gesprächsrunde „Fortschritte – Rückschritte – Perspektiven des deutschen Jazz“ bringt Arne Schumacher drei Protagonistinnen der aktuellen deutschen Jazzszene ins Gespräch, die in Hamburg und Köln ausgebildete Bassistin und Komponistin Hendrika Entzian, die Produzentin Stefanie Marcus von dem erfolgreichen Berliner Label „Traumton“ sowie Lena Jeckel, künstlerische Leiterin des Bunker Ulmenwall in Bielefeld.

 

Jazz – Gestern und Heute | Veröffentlichung im Rahmen der Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung

Radio Jazz Research-Mitglied Bernd Hoffmann veröffentlicht seine «Anmerkungen zu einem Kurzfilm von Joachim Ernst Berendt» in der kommenden Ausgabe der Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung. Vorab ist sein Beitrag bereits als PDF abrufbar.

Hoffmann eröffnet einen Blick auf das Wirken von Berendt, liefert damit gleichsam aber auch einen Beitrag zu einer westdeutschen Rundfunkgeschichte. Radio Jazz Research tagt am 26. und 27. Oktober in Mannheim und forciert auch dort einen medienanalytischen Zugang zu einer Jazzgeschichte der 1950er-Jahre.

John Jack, wichtiger Akteur der Jazzszene Großbritanniens, mit 84 verstorben

John Jack

John Jack

Erst vor wenigen Monaten hatte sich Radio Jazz Research-Mitglied Oliver Weindling mit John Jack in London für ein Interview getroffen. Entstanden ist eine „Oral history of recorded sound“. Nun ist John Jack im Alter von 84 Jahren verstorben:

JOHN JACK, an important behind-the-scenes figure in jazz in the UK passed away on Thursday 7 September at the age of 84.
Mike Westbrook has written : «John was at the epicentre of all the changes going on….he never faltered in his belief in the music.»

Here is the full text of Mike Westbrook’s tribute in LondonJazz News

Radio Jazz Research in London | Oliver Weindling im Gespräch mit John Jack

John Jack (*1933) gründete 1971 zusammen mit Mike Westbrook das Label «Cadillac». Darüber hinaus leitete er von 1965-1967 «Ronnie Scott’s Jazz Club», der bis heute besteht. Oliver Weindling, 2. Vorsitzender von Radio Jazz Research, und Bernd Hoffmann, 1. Vorsitzender des Vereins, besuchten John Jack in London. Entstanden ist ein Film, der bei der 33. Radio Jazz Research-Tagung in Remagen (05. und 06. April 2018) gezeigt werden wird: eine «Oral history of recorded sound».

Impressionen aus London (ein Klick auf ein Bild öffnet die Bildergalerie):

RJR-Mitglied Oliver Weindling im Gespräch mit John Jack: Standbild aus dem entstandenen Film

RJR-Mitglied Oliver Weindling im Gespräch mit John Jack: Standbild aus dem entstandenen Film

RJR-Mitglied Oliver Weindling im Gespräch mit John Jack, Mitbegründer des Labels "Cadillac" und von 1965-1967 Leiter des "Ronnie Scott’s Jazz Club".

John Jack ist Mitbegründer des Labels «Cadillac» und war von 1965-1967 Leiter des ‹alten› «Ronnie Scott’s Jazz Club».

Seit 1965 ist "Ronnie Scott's Jazz Club" in der Frith Street 47 beheimatet.

Seit 1965 ist der ’neue› «Ronnie Scott’s Jazz Club» in der Frith Street 47 beheimatet.

Der alte "Ronnie Scott's Jazz Club" ist mittlerweile einem asiatischen Restaurant gewichen (Gerrard Street 39, London). 1965 zog der Club in die Frith Street 47 um.

Der ‹alte› «Ronnie Scott’s Jazz Club» ist mittlerweile einem asiatischen Restaurant gewichen (Gerrard Street 39, London).

Langjähriges Radio Jazz Research-Mitglied Thomas Phleps verstorben

Prof. Dr. Thomas Phleps (*1955 – †2017)

Ein Nachruf von Dr. Ralf von Appen/JLU Gießen (hier veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis):

Geboren am 2.9.1955 in Bad Hersfeld, studierte Thomas Phleps in Marburg und Kassel, wo er 1981/83 Staatsprüfungen für das Lehramt an Mittel- und Oberstufen in den Fächern Musik, Deutsch und Philosophie ablegte. Von 1983-1994 war er Lehrbeauftragter für Musikwissenschaft und Gitarre an der Universität Gesamthochschule Kassel. Dort promovierte er 1987 bei Helmut Rösing mit der Dissertation „Hanns Eislers ‚Deutsche Sinfonie’. Ein Beitrag zur Ästhetik des Widerstands“. Zugleich arbeitete er als Bühnenmusiker und als Jugendreferent am Staatstheater Kassel, ab 1989 gab er als Musik- und Deutschlehrer Sprach- und Abiturkurse für Exilberechtigte. Er baute das Kasseler „Musikzentrum im Kutscherhaus“ auf und war wissenschaftlicher Begleiter des Modellprojektes „Musik aktiv im Kasseler Osten“.

1995 erfolgte die Berufung auf die Hochschuldozentur für Musikpädagogik an der JLU Gießen, wo er sich 2000 für die Fächer Musikwissenschaft und Musikpädagogik habilitierte („Zwischen Spätklassik und HipHop – Methoden und Modelle. Musikanalytische, musikhistorische und musikdidaktische Studien“). Nach kurzer Zeit als Professor am Studiengang Musik/Musikwissenschaft der Universität Bremen (2001-2003) kehrte er im Oktober 2003 als Professor für Musikpädagogik an die JLU Gießen zurück.
1997 wurde Thomas Phleps in den Vorstand des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (seit 2014: Gesellschaft für Popularmusikforschung) gewählt und seitdem sechsmal in diesem Amt bestätigt. Seit 1998 hat er 19 Bände der Beiträge zur Popularmusikforschung, seit 2002 auch das Online-Journal SAMPLES herausgegeben. Neben all diesen ehrenamtlichen Tätigkeiten war er immer auch als Musiker aktiv: Von 1986-2000 zugleich als Arrangeur und Leiter des Hanns Eisler Ensemble wie auch der Out of Reach Blues Band, der Blues Big Band, seit 2000 der Soul’n’Blues-Band Beat That Chicken.
In Forschung und Lehre widmete Thomas Phleps sich der Musik und – wie er es nannte – den „musikalischen Umweltverhältnissen“ des 20. und 21. Jahrhunderts. Dabei ist als roter Faden ein Engagement für Außenseiter, Benachteiligte und Verfolgte nicht zu übersehen – an der Affirmation des Etablierten hatte er keinerlei Interesse. Als erstes ist dabei an seine umfangreichen, international anerkannten Pionierarbeiten zu den Exil-Komponisten Hanns Eisler und Stefan Wolpe zu denken. Ab 1993 wirkte er im Editorial Committee der Stefan Wolpe Society mit, seit 2010 war er Editionsleiter (Noten) der Hanns Eisler Gesamtausgabe (HEGA). Ein zentrales Anliegen war ihm daneben die Aufdeckung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Musikpädagogik und -wissenschaft, zu der er Wesentliches beigetragen hat.
Thomas’ Leidenschaft galt der Black Music, dem Soul, Funk und Jazz, insbesondere aber dem (Pre-War-)Blues; seine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind nicht anders als enzyklopädisch zu bezeichnen. Seine Seminare zu Jimi Hendrix, Frank Zappa und Captain Beefheart waren die ersten und wohl auch einzigen dieser Art. Kanonbildungen und verklärenden Heldengeschichten wirkte er dabei – bei allem Enthusiasmus für die Musik – mit einer Kombination aus profunder musikanalytischer und sozialgeschichtlicher Kompetenz entgegen. Aber auch den deutschen Schlager mitsamt seinem gesellschaftlichen Überbau analysierte er immer wieder messerscharf.
Als Musikpädagoge setzte er alles daran, ein System zu reformieren, unter dem er selbst als Schüler gelitten hatte. Gegen die Fortschreibung eines bürgerlichen Kunstverständnisses, das um den Kanon „großer Meister“ und Notenfixiertheit kreist, setzte er Handlungskonzepte, aktivierende Projektmethoden und vor allem die Auseinandersetzung mit Musiken der Gegenwart. In seiner akademischen Lehre musste man selbst aktiv werden; standardisierte Lehrveranstaltungen – gar Vorlesungen –, in denen man Bildung bequem passiv konsumieren konnte, waren ihm zuwider. Stattdessen traute er seinen Studierenden – und auch seinen Mitarbeitern – immer zu, kritisch zu sein und eigene Lösungen zu finden, ohne sie auf dem Weg dorthin je allein zu lassen. Mit seiner Methode der gezielten Verunsicherung und dem beständigen Hinterfragen vermeintlich gesicherten Wissens konnte und wollte er vor allem Studienanfänger irritieren – aber genau diese grundlegend kritische Haltung machte ihn für viele, die bei ihm studiert haben, dann zum (nicht nur akademischen) Vorbild. Als Geschäftsführender Direktor hat er das Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik beständig reformiert und erweitert, den Schwerpunkt Populäre Musik dabei systematisch und nachhaltig ausgebaut. Dass die JLU Gießen heute eine umfassende Lehramtsausbildung auch für die gymnasiale Oberstufe anbietet, in der gegenwärtige Musiken in Theorie und Praxis entgegen herrschender Verhältnisse fest implementiert sind, ist allein seiner Hartnäckigkeit zu verdanken.
Thomas war herzlich, bescheiden und ohne jede Eitelkeit. Für die Belange der Studierenden und seiner Mitarbeiter hat er sich mit großem Engagement eingesetzt, er nahm sich viel Zeit und hörte zu, ohne dass man ihn darum erst bitten musste. Wer ihn gekannt hat, war beeindruckt von seiner unermüdlichen Bereitschaft, klare Positionen zu beziehen, Kritik zu üben, Verantwortung zu übernehmen und für seine Ideale einzustehen. Unter Konflikten hat er gelitten; trotzdem ist er ihnen nie aus dem Weg gegangen. Hierarchien waren ihm fremd, wenn sie sich nicht auf die Werte stützten, für die er mit allem einstand und auf denen seine eigene Autorität basierte: Ehrlichkeit, Vertrauen, Loyalität. Gerade weil er die ausgetretenen Pfade weiträumig gemieden hat, hat er so viele, so tiefe Spuren hinterlassen.
Thomas Phleps verstarb am 5.6.2017 völlig überraschend und viel zu früh an einem Herzinfarkt.
so long, thomas