18. Arbeitstagung in Remagen | 31. August und 1. September 2011

Wild Card – Themenoffene Tagung

Das Tagungsprogramm

  • Márton Szegedi Zum musikalischen Schaffen von John Scofield – Ausgewählte Analysen zu Kompositionen und Improvisationen
  • Stuart Nicholson Jazz Policy, the BBC and Outsourcing
  • Oliver Weindling The Archaeology of London Jazz
  • Michael Rüsenberg Anmerkungen zu „Cognitive Dimensions of Instrumental Jazz Improvisation“ von James Fidlon (Austin/Texas)
  • Arne Schumacher und Bernd Hoffmann im Gespräch mit Reiner Michalke 25 Jahre Stadtgarten Köln – eine Bilanz
  • Herbert Uhlir Aktuelle Jazz-Festivals in Österreich, eine Übersicht

17. Arbeitstagung in Passau | 25. bis 27. Mai 2011

Jazz and Contemporary Music

Über 20 Teilnehmer hatten sich Ende Mai auf den Weg in die Dreiflüssestadt in Bayern gemacht, um sich dem Thema „Jazz und Neue Musik“ zu widmen. Abgesehen von leichten Startschwierigkeiten (Bombenfunde, Baustellen und Unfälle hatten just an diesem Mittwochmittag Südostbayern von der Außenwelt zeitweise komplett abgeschnitten) lief die Tagung reibungslos, und das in einer einzigartigen Umgebung.

Das Tagungsprogramm

  • Prof. Dr. Ekkehard Jost Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik
  • Harry Lachner Von Annäherungen und Missverständnissen – Einer kleine Beziehungsgeschichte zwischen Komposition und Improvisation.
  • Günther Huesmann „What Thou Wilt“ – Anmerkungen zu John Zorns „classical works“
  • Harry Vogt Aktuelle Tendenzen der Neuen Musik
  • Prof. Dr. Franz Krieger Expressionistische Gestaltungsmittel bei Herbie Hancock
  • Martin Laurentius im Gespräch mit dem Ensemble-Modern-Posaunisten Uwe Dierksen Comprovised Music
  • Prof. Dr. Maximilian Hendler Neue Musik: Ein Terminus und sein ethnozentristisches Potential
  • Dr. Thorsten Wagner Improvisation oder Komposition? Zum ästhetischen Konzept der Improvisationsgruppe Nuova Consonanza

Alles im Fluss…

Für die Tagungsreferenten in Passau war es ein ganz besonderes Hintergrundbild: wenn sie über die Köpfe der Zuhörer hinwegschauten, konnten sie die gemächlich vorüber ziehenden Schiffe auf der Donau sehen. Über 20 Teilnehmer hatten sich Ende Mai auf den Weg in die Dreiflüssestadt in Bayern gemacht, um sich dem Thema „Jazz und Neue Musik“ zu widmen. Abgesehen von leichten Startschwierigkeiten (Bombenfunde, Baustellen und Unfälle hatten just an diesem Mittwochmittag Südostbayern von der Außenwelt zeitweise komplett abgeschnitten) lief die Tagung reibungslos, und das in einer einzigartigen Umgebung. Dank des unermüdlichen Einsatzes von Paul Zauner fand die Tagung in den stimmungsvollen Gemäuern des Cafés im Museum Moderner Kunst statt, mitten in der Altstadt und am Donauufer gelegen.

Prof. Ekkehard Jost aus Gießen eröffnete die Tagung mit seinem Referat, in dem er auf Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik einging. „Von Annäherungen und Missverständnissen“ wusste der Münchner Publizist Harry Lachner zu berichten, in seinem Vortrag skizzierte er eine kleine Beziehungsgeschichte zwischen Komposition und Improvisation.

Viele Aspekte an der Schnittstelle zwischen Neuer Musik und Jazz, zwischen Komposition und Improvisation, wurden am ersten Tag angerissen, viele Fragen beantwortet und viele Fragen aufgeworfen, die dann beim abendlichen Glas Bier weiter vertieft wurden.

Tag zwei begann mit einem Gastreferenten aus Köln: Harry Vogt ist Redakteur für Neue Musik im Kulturradio WDR 3. Er berichtete über aktuelle Tendenzen der Neuen Musik nicht nur aus der Sicht eines Radiomachers, sondern auch aus der eines Produzenten und Organisators. Dank dieser „Ämterhäufung“ kennt Vogt die unterschiedlichen Perspektiven und lieferte in seinem Vortrag einen guten Überblick über aktuelle Tendenzen in diesem Bereich.

Franz Krieger, Professor am Institut für Jazzforschung in Graz, sezierte in Bild und Ton die Musik des Pianisten Herbie Hancock. Sonst eher flüchtig gehörte Musikpassagen von Hancocks Klavierspiel wurden durch Kriegers detaillierte Transkriptionen transparent und nachvollziehbar.

Uwe Dierksen gewährte dem Plenum im Anschluss Einblicke in die Arbeit eines Musikers: Dierksen ist Posaunist beim Ensemble Modern und unterhält auch eigene Musikprojekte. In seinem Vortrag ging es um kreative Prozesse. Er zeichnete den langen Weg nach, wie bei ihm aus einer musikalischen Idee eine Komposition entsteht. Ganz ohne Worte kam der zweite „Auftritt“ von Uwe Dierksen aus, als er am Abend mit einem Solo-Konzert ein exklusives „RJR“-Konzert gab.

Prof. Maximilan Hendler richtete in seinem Referat den Fokus in Richtung Afrika und erörterte den Terminus „Neue Musik“ im Hinblick auf sein ethnozentristisches Potential. Zum Abschluss sprach Thorsten Wagner über das Verhältnis von Komposition und Improvisation am Beispiel der Improvisationsgruppe „Nuovo Consonanze“ und deren ästhetischem Konzept.

Wenige Schritte vom Tagungsort im Cafe Museum fließt der grün-blaue Inn in die bräunliche Donau – ein prächtiges Natur- und Farbenspiel. Und ein schönes (Vor-) Bild, dass auch in der Musik alles fließt und gerade die Begegnung von Jazz und Neuer Musik faszinierende, andersartige Klangfarben entstehen lässt.

Jörg Heyd

16. Arbeitstagung in Münster | 6. bis 7. Januar 2011

16. Arbeitstagung, 6. bis 7. Januar 2011 in Münster

Länderschwerpunkt Norwegen

Zu Beginn des Jahres kam der Verein Radio Jazz Research zu seiner 16. Arbeitstagung zusammen, zum dritten Mal war diese im Parkhotel Schloss Hohenfeld bei Münster – im Vorfeld des dortigen Jazzfestivals – anberaumt. Thematisch wurde die lose Länderschwerpunktreihe fortgesetzt, die norwegische Jazzszene stand diesmal im Brennpunkt der Referate und Musikergespräche.

Das Tagungsprogramm

  • Dr. Andy J. Hamilton Jazz as classical music
  • Prof. Stuart Nicholson The Nordic Tone
  • Karsten Mützelfeldt THE NOR-WAY oder: „Wir sind die Wikinger von heute!“ – Zur Eigenart und Pflege eines nordischen Kreativ-Stammes
  • Prof. Stuart Nicholson im Gespräch mit dem norwegischen Musiker Per Zanussi
  • Bo Grønningsæter Förderung und Export – Einblicke
  • Jan Granlie Die Jazz-Medienlandschaft Norwegen
  • Stuart Nicholson im Gespräch mit dem norwegischen Musiker Håkon Kornstad

Mit „The Nordic Tone in Jazz“, dem Eröffnungsvortrag des englischen Musikjournalisten Stuart Nicholson, wurde gleich zu Beginn ein zentrales Thema angerissen. Nicholson skizzierte (in Anlehnung an das entsprechende Kapitel seines Buchs „Is Jazz dead? (Or Has It Moved To A New Address)“) die Entstehung des von ihm postulierten „nordic tone”, deren Wurzeln ihm zufolge in der dünn besiedelten Landschaft Skandinaviens liegen, in durch lange Winter entschleunigten Arbeitszyklen: Bedingungen, die, so Nicholson, ein Nachdenken über Leben und Tod begünstigen. Eine existenzielle Grundhaltung, die sich auch in der Volksmusik manifestiere, und die so ab den 1950er-Jahren in den Jazz eingeflossen sei – angeregt durch Stan Getz, der 1951 im Zuge einer Schweden-Tournee das Volkslied „Ack Värmeland du Sköna“ aufnahm: Für viele skandinavische Jazzmusiker ein Anstoß, sich in der Musik eigener Wurzeln zu besinnen. In weiterer Folge führte Nicholson u. a. Lars Gullin, Bengt-Arne Wallin, Jan Johanssen, George Russell (ab 1964 einige Jahre in Schweden beheimatet), Jan Garbarek und das junge Helge Lien Trio als Zeugen der Entwicklung des „nordic tone“ an.

Ausführungen, die in der Diskussion sogleich auf Widerspruch stießen: Vom „Nordic Tone“ als „Mythos“ (Bo Grønningsæter) war da die Rede, es wurde auf den Widerspruch zwischen friedvoller Natur und dem harten Überlebenskampf der Bewohner verwiesen, ebenso auf eine Aussage von Sängerin Karin Krog, die auf die zentrale Rolle des Münchener ECM-Labels hinwies: „The nordic tone was an invention of Manfred Eicher.“

Karsten Mützelfeld (WDR) stellte in seinem „THE NOR-WAY oder: ‚Wir sind die Wikinger von heute!’“ betitelten Vortrag die Diskussion der Frage, ob es sich beim Phänomen des „Nordic Tone“ um von außen projizierten Exotismus oder tatsächlich um eine gewachsene Tradition handelt, auf eine breitere, differenzierte Basis: Mützelfeld zitierte einerseits Musiker wie den norwegischen Saxofonist Karl Seglem, nach dem Jazz mit volksmusikalischen Bezügen vor allem in Deutschland, weniger in seiner Heimat, gefragt sei, wie auch den Coltrane-beeinflussten Kollegen Petter Wettre, dessen Musik nicht als genuin „norwegisch“ verkauft werden könne und deshalb weniger nachgefragt werde. Andererseits, so Mützelfeld, seien da junge Bands wie das norwegische Quintett „Atomic“ oder das Metal-Jazz-Ensemble „Shining“, die ihre Musik in bewusster Gegenreaktion auf die als „Mountain Jazz“ apostrophierten, sphärischen Klangmeditationen entwickelt hätten und damit sehr wohl international Gehör fänden.

Vertiefende Innenansichten der norwegischen Jazzszene boten die von Stuart Nicholson moderierten Musikergespräche mit Bassist Per Zanussi und Saxofonist Håkon Kornstad, die mit der „Zanussi Five“ bzw. im Duo mit Vokalistin Sidsel Endresen das Jazzfestival Münster schmückten, sowie Vorträge zweier nicht-musizierender Repräsentanten: Jan Granlie, Herausgeber der Magazins JazzNytt, skizzierte die Lage der Jazz-Medienlandschaft Norwegens und stellte diese alles andere als rosig dar: Während Granlie in seiner kurzen historischen Chronologie in den 1940er- und 1950er-Jahren eine erstaunliche Fülle an – freilich kurzlebigen – Magazinen anführte, sei die Situation des Jazz in Tagespresse und Rundfunk heute ebenso schwierig wie die seines bereits seit 1960 erscheinenden Magazins „JazzNytt“.  „Nobody is writing about jazz in Norway anymore“, so Granlies etwas kulturpessimistische Conclusio, die möglicherweise durch den Umstand relativiert werden muss, das JazzNytt bis dato kaum auf begleitende Maßnahmen im Internet setzt.

Bo Grønningsæter (West Norway Jazz Center) hingegen gab einen Überblick über die durchaus bedeutenden staatlichen Förderstrukturen den norwegischen Jazz, die sich als Teil nationaler Export-Diversifizierung, als strategisch entwickelte Alternative zur Öl- und Fischindustrie, verstünden. So sei man mit dem „Jazz Norway in a NutShell“-Programm nicht nur in Europa, sondern auch in Hongkong, Australien, Korea und auf den Philippinen präsent. Das in Analogie zum „Dutch Jazz Meeting“ organisierte Nattjazz-Festival in Bergen, zu dem Veranstalter aus ganz Europa eingeladen werden, hätte zu rund 500 Engagements norwegischer Musiker geführt. Wobei die Praxis, sich an den Kosten durch Übernahme der Reisespesen zu beteiligen, als Anreiz fungiert.

Einen thematischen Exkurs in andere Gefilde bedeutete der Vortrag „Jazz as classical music“, in dem sich Andy J. Hamilton (Durham University) mit verschiedenen Sichtweisen von Jazz als (amerikanischer) klassischer Musik – u. a. in Gestalt der Positionen Billy Taylor und Wynton Marsalis‘ – und deren Implikationen auseinander setzte.

Andreas Felber

15. Arbeitstagung in Freiburg | 15. und 16. September 2010

15. Arbeitstagung, 15. bis 16. September 2010 in Freiburg

Wild Card – Themenoffene Tagung

Unter dem Titel „Im Dialog mit den USA – Entwicklungen des Jazz in Europa in den 1960er und ’70er Jahren“ widmete sich der in Mannheim lehrende Jazzhistoriker Jürgen Arndt den beiden hauptsächlichen Perspektiven der Jazzgeschichtsschreibung dieser Periode. Deren eine entstammt dem englischsprachigen Bereich und betont insbesondere den Zusammenhang des Jazz mit den Entwicklungen im Blues und im Rock. Die zweite, primär den Veröffentlichungen von Ekkehard Jost geschuldete, steht für den deutschen Sprachraum und betont – wen wundert es angesichts ihres Protagonisten? – vorderhand den Zusammenhang von Jazz und Avantgarde.

Das Tagungsprogramm

  • Prof. Dr. Jürgen Arndt Im Dialog mit den USA – Entwicklungen des Jazz in Europa in den 1960er und 70er Jahren
  • Pius Knüsel im Gespräch mit Michael Rüsenberg Jazzförderung in der Schweiz
  • Prof. Stuart Nicholson Jazz and the Media Today
  • Dr. Bernd Hoffmann Das Orchester Kurt Edelhagen
  • Thomas Mau Das Europäische beim Orchester Kurt Edelhagen
  • Tina Heine im Gespräch elbJazz – Binnensicht auf ein neues Festival
  • Prof. Dieter Manderscheid im Gespräch mit Jörg Heyd Jazz in der Hochschulausbildung
  • Prof. Dr. Franz Krieger „Matrix“: Komposition – Improvisation. Aspekte des musikalischen Schaffens von Chick Corea

Jürgen Arndt widmete sich der Frage, ob diese beiden Positionen nicht vielleicht doch näher beisammen liegen, als dies a priori erscheint, und er ging in seiner Argumentation auf Literatur ein (insbesondere Andreas Reckwitz und Paul Stump) wie auch auf musikalisch-soziologische Bedeutungsträger (u. a. Alexis Korner und die Graham Bond Organization). In einem nächsten Schritt widmete er sich der Musikgruppe „Cream“ und stellte diese in zeitgenössischen Rezensionen dar. Sein Fazit, dass dieses Ensemble eine der wichtigen frühen Jazzrock-Formationen war, sorgte in der an das Referat anschließenden Diskussion für recht konträre Stellungnahmen.

Zum Bereich „Jazz und Avantgarde“ thematisierte der Referent den Komponisten John Cage und dessen Umfeld: die New-York-School sowie deren radikale Fortsetzung, die Fluxus-Bewegung. Daran anschließend ging Arndt auf Peter Brötzmann und dessen Zusammenarbeit mit Nam June Paik ein, und zuletzt wurde Misha Mengelberg erörtert, der ja ebenfalls von John Cage und Fluxus wesentlich beeinflusst wurde. Das letztendliche Resumee, dass zwischen den beiden eingangs erwähnten Positionen durchaus Zusammenhänge zu erkennen seien, wurde abrundend durch etliche Tonbeispiele exemplifiziert. Wen bis dahin das gesprochene Wort ein ausreichendes Maß befriedigender Einsicht verwehrt hatte, dem wurde doch mit der erklingenden Musik gewahr, dass die Gesamtthematik noch mehr als genug Diskussionsbedarf impliziert. Dass diesbezügliche Wortmeldungen – durchaus auch in Form humorvoller Nebenbemerkungen – die ganze weitere Tagung durchzogen, spricht für die interessante Thematik dieses Vortrages.

In seinem Vortrag „Jazzförderung bei Pro Helvetia“ gab der Pro-Helvetia-Geschäftsführer Pius Knüsel einen Überblick über diese 1939 gegründete schweizerisch-staatliche Kulturförderung. Demnach liegt der Auftrag von Pro Helvetia in den Bereichen Werkförderung, Kulturpromotion und Kulturaustausch im Inland und auch im Ausland. Bei einem jährlichen Budget von knapp 4 Millionen Schweizer Franken für die Sektion Musik wird zwischen den Abteilungen Klassik, Pop, Jazz und Folk unterschieden, wobei auf den Bereich Jazz ca. 700.000 Schweizer Franken fallen. Dieser Budgetanteil entspringt jedoch keiner Quotenregelung, sondern es gibt einen ständigen Konkurrenzkampf um das Portfolio.

Die Kriterien, nach denen u. a. Tourneen, Festivals und mehrjährig bestehende Ensembles gefördert werden, gehen (a) auf die Nachhaltigkeit des Projekts ein, (b) darauf, ob es sich um einen anerkannten Veranstalter handelt, weiters, (c) ob zeitgenössische Musik vorliegt – denn nur solche wird gefördert! – und (d) ob die Musiker professionelles Können an den Tag legen oder (auch) experimentell agieren. Als Entscheidungsträger für die Vergabe der Geldmittel fungieren die Geschäftsstelle (bei Summen bis 20.000 Franken) oder der Stiftungsrat.

Nach der Darstellung diverser Details (Höhe von Gagen, Ausmaß der Eigenfinanzierung usw.) ging Knüsel auf die Prinzipien und Ziele diverser Jazz-Förderschienen ein, u. a. auf die Labelförderung sowie die für Jazzmusiker besonders relevante prioritäre Jazzförderung. Letzteres sind dreijährige Leistungsvereinbarungen mit ausgewählten Jazzbands, die pro Jahr mit 25.000 Franken für Auslandstourneen, CD-Produktionen und Kompositionen unterstützt werden.

Die sich an das Referat anschließende Diskussion problematisierte die teilweise extrem unscharfe Profilbildung vieler Jazzfestivals, und es wurde hervorgehoben, dass die grundsätzliche Aufgabe von Pro Helvetia nach wie vor eine politische sei. Knüsel betonte diesbezüglich, dass die Gründung von Pro Helvetia eine Reaktion auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges war, da die Gefahr bestand, dass sich die deutschsprachige Schweiz Deutschland anschließt. Die heutige politische Aufgabe von Pro Helvetia bestehe darin, die durch mediale Übersättigung hervorgerufene Ignoranz des Publikums zu bekämpfen.

Der aus Großbritannien stammende und zuletzt durch sein Buch „Is Jazz Dead?“ ins Rampenlicht gerückte Stuart Nicholson brachte mit seinem Vortrag „Jazz and the Media Today“ die Kurzfassung einer Dokumentation, die er im Frühjahr 2010 für die BBC verfasst hatte. Dabei stellte er Trends dar, die primär Großbritannien betreffen, jedoch in Ursache wie auch Auswirkung durchaus auf Kontinentaleuropa übertragbar sind. Ausgangspunkt seiner Erläuterungen war die Feststellung, dass die bedeutungsschwere Beziehung von Jazz und Medien so alt ist wie der Jazz. Diese Beziehung habe auch zu keiner Zeit mehr aufgehört, sich jedoch in ihrer Tiefe gewandelt. Nicholson unterlegte dies mit verschiedenen Beispielen und hob hervor, dass es in den 1990er Jahren bis kurz nach der Jahrtausendwende eine durchaus erfreulich intensive Auseinandersetzung der Medien mit dem Jazz gegeben habe: In der Qualitätspresse seien Features, Konzert- und CD-Rezensionen erschienen, in den Kulturkanälen des Fernsehens habe es gelegentlich Jazz-Dokumentationen gegeben, musikalische Jazzklassiker hätten im TV immer wieder einmal Verwendung gefunden usw. In den letzten Jahren sei jedoch das Interesse der Medien am Jazz signifikant zurückgegangen.

Dieser Feststellung schloss Nicholson eine Reihe von Fragen an, die dann auch die auf das Referat folgende Diskussion bestimmten: In welcher Weise wird Jazz innerhalb der heutigen Medienumgebung vom Publikum rezipiert? Entwickelt sich die populäre Kultur zu einer Mainstreamkultur? Besteht die aktuelle europäische Mainstreamkultur tatsächlich aus Namen wie Britney Spears und Eminem?

In seinen eigenen Antworten hob Nicholson hervor, dass das Zielpublikum für diese medial-kulturellen Erscheinungen junge Mädchen im Alter zwischen 8 und 16 Jahren seien. Davon ausgehend verwies er auf einen kulturellen Wandel, der in den letzten zehn Jahren Platz gegriffen habe und beleuchtete in diesem Zusammenhang drei kulturelle Konzepte, die seinen Worten nach mittlerweile unser aller kulturelle Realität formen: „Relativism“ (jede Meinung ist subjektiv und hat insofern ihren Wert und ihre Wahrheit; subjektive Wahrheit hat die objektive ersetzt), „instrumentalist ethos“ (der Wert einer Sache bemisst sich an deren – nicht zuletzt ökonomischen – Verwendbarkeit; die Summe solcher Erscheinungen wird ökonomischer Fortschritt genannt) und „anti-elitism“ (das Elitäre wird unter das Volk gebracht, indem das Elitäre massentauglich gemacht wird). Vor allem die Printmedien, so Nicholson, hätten diese neue Ausrichtung vollzogen, um „to appear relevant, accessible and in touch with popular opinion“ und kümmerten sich seither primär um Pop, Rock und Film.

Das hinsichtlich des Jazz bedrückende Fazit brachte Nicholson sprachlich prägnant auf den Punkt: „no distinction is made between knowledge and opinion, the latter usually predominating“.

Musikalische Analyse stand im Mittelpunkt des Referates von Franz Krieger (Graz, Institut für Jazzforschung). Unter dem Titel „‚Matrix‘: Komposition – Improvisation. Aspekte des musikalischen Schaffens von Chick Corea“ wurde der Frage nachgegangen, nach welchen musikalisch-strukturellen Gestaltungsweisen Chick Corea komponiert sowie die Reharmonisationen seiner Soli gestaltet. Das dabei untersuchte Musikstück, „Matrix“, entstammt der jazzhistorisch bedeutsamen LP „Now He Sings, Now He Sobs“ aus dem Jahre 1968. Als wesentliche Resultate wurden folgende Gestaltungsprinzipien dieser sehr komplex wirkenden Musik hervorgehoben: (1) Chick Corea findet mit wenigen, grundlegenden Gestaltungsmitteln das Auslangen (Gegensatzpaar Einfachheit–Komplexität; Sus-Akkord als Schwebeklang; Rückung als Verfremdung). (2) Aus dem hohen Tempo ergibt sich zusätzliche Komplexität. (3) Dem Publikum werden durch einfache, wiedererkennbare Passagen immer wieder musikalische Orientierungspunkte geboten. Diese schaffen die Akzeptanz für extreme Komplexität.

Der Beitrag von Bernd Hoffmann, dem Leiter der Jazzredaktion des Westdeutschen Rundfungs (WDR), unter dem Titel „Das Orchester Kurt Edelhagen im Film“ war nicht als Referat im üblichen Sinn, sondern als Präsentation ausgewählter Filmpassagen konzipiert. Die derart vorgestellten Ausschnitte (u. a. „Bühne frei für Marika“ mit Marika Rökk aus dem Jahr 1947 sowie „Armer Gigolo“ aus dem Jahr 1959) stammen aus den Archiven des WDR, wo sie öffentlich nicht zugänglich sind und daher für das Publikum dieser Tagung von umso größerem Interesse waren.

Ebenfalls aus den Archiven des Westdeutschen Rundfunks, nun aber Tondokumente betreffend, schöpfte der WDR-Mitarbeiter Thomas Mau in seinem Referat mit dem Titel „Das Europäische beim Orchester Kurt Edelhagen“. Hierbei muss man sich vor Augen halten, dass es vom Kurt-Edelhagen-Orchester rund 3.000 Aufnahmen gibt, von denen jedoch nur die wenigsten veröffentlicht sind und die meisten in den WDR-Archiven lagern.

Der 1982 verstorbene Edelhagen, ein studierter Klarinettist, Pianist und Dirigent, wechselte 1957 vom Südwestfunk Baden-Baden zum WDR. Ab diesem Zeitpunkt widmete er sich vermehrt dem Anliegen, „europäischen“ Jazz zu kreieren So thematisierte der Referent die Frage, was denn, sofern vorhanden, das Europäische an seiner Musik war. Umrahmt von einer Fülle an interessanten Musikbeispielen (darunter eine Adaption des Frühlingsstimmenwalzers von Johann Strauß), gab Thomas Mau seine Antwort in vier Punkten: (1) Aufgabe des Beat zugunsten einer Rubato-Rhythmisierung; (2) Fehlen bzw. Reduzierung des Improvisatorischen; (3) Dominanz des Kompositorischen; (4) Verarbeitung von Themen aus Klassik und Volksmusik.

Die beiden abschließenden Beiträge der Tagung bestanden jeweils aus Interviews. Das erste, unter dem Titel „Tina Heine (Festivalleiterin) im Gespräch: Elbjazz – Binnensicht auf ein neues Festival“, führte Arne Schumacher. Seine Gesprächspartnerin Tina Heine, ihres Zeichens Gastronomin am Hamburger Hafen, entwickelte die Idee zu dem in seinem ersten Bestehensjahr bereits über die Bühne gegangenen Hamburger Jazzfestival Elbjazz. Zu diesem zwei Tage dauernden, am Hamburger Hafen an 15 Spielorten mit 56 Bands durchgeführten musikalischen Großereignis wurden Entstehung, Koordination, Probleme und deren Lösungen sowie vor allem auch finanzielle Aspekte erörtert. Auf besonderes Interesse stieß hierbei die Tatsache, dass es mit Heine einer Einzelperson gelungen war, die Initialzündung zu einer Jazzreihe dieser Größe zu geben.

Das zweite der Interviews lief unter dem Titel „Dieter Manderscheid (Dekan des Fachbereiches Jazz an der Kölner Musikhochschule) im Gespräch mit Jörg Heyd: Jazz in der Hochschulausbildung“. Manderscheid schilderte hierbei den Weg, den ein Jazzinteressierter zu bewältigen hat, um Jazz-Studierender in Köln zu werden. So ist es u. a. unerlässlich, dass Bewerber bereits ausreichend Ensemble-Erfahrung haben, und dennoch stehen den rund 350 Personen, die pro Jahr zur Aufnahmeprüfung antreten, nur insgesamt 10 bis maximal 30 Studienplätze gegenüber. Zudem gibt es, je nach Instrument, Unterschiede in der Anzahl der Bewerber. So sind zuletzt im Fach Schlagzeug 65 Personen zum Aufnahmetest angetreten, denen drei Studienplätze gegenüberstanden. Verschärft wird diese Situation für Bewerber dadurch, dass sie in Köln nicht öfter als zweimal zur Aufnahmeprüfung antreten dürfen. Sind sie zweimal durchgefallen, dürfen sie dieses Fach in Köln nie wieder studieren.
Das Studium dauert 8 Semester, und das Curriculum sieht lediglich im ersten Jahr so gut wie keine Wahlmöglichkeiten für die Studierenden vor. In diesem Abschnitt kommen allerdings auch bereits jene Fächer vor, die die nötigen Managementkenntnisse und praktischen Erfahrungen zur Selbstvermarktung vermitteln sollen. Hochschulgebunden exemplifiziert werden diese Jahr für Jahr in einem dreitägigen Festival, das die insgesamt rund 100 Studierenden selbst organisieren und bespielen.

Befragt nach dem Renommee der Kölner Jazzausbildung, verwies Manderscheid darauf, dass im Vergleich zu den angesehenen holländischen Bildungseinrichtungen wie auch zum Berklee College Of Music die Studierenden fast ausschließlich von außen nach Köln kommen. Die Hauptgründe dafür liegen, so der Referent, neben der Person des Hauptfachlehrers in erster Linie an den in Köln vorhandenen musikalischen Spielräumen.

Franz Krieger

14. Arbeitstagung in Schaffhausen | 7. und 8. Mai 2010

14. Arbeitstagung, 7. bis 8. Mai 2010 in Schaffhausen

Jazz in der Schweiz

Am 7. und 8. Mai 2010 folgten die Mitglieder des Radio Jazz Research einer Einladung Urs Röllins nach Schaffhausen. Der Festivalleiter lud zum 7. Mal zu den „Schaffhauser Jazzgesprächen“ im Vorfeld des Schaffhauser Jazzfestivals. Die 14. Arbeitstagung von Radio Jazz Research fand dementsprechend unter dem Motto „Jazz in der Schweiz“ statt.

Das Tagungsprogramm

  • Schaffhausener Jazzgespräche Jazz und soziale Krise
  • Bruno Spörri Von der «Tschetzpend» zum Halbstarkenbunker – von den Anfängen des Jazz in der Schweiz
  • Christian Steulet Jazz und Kulturpolitik in der Schweiz
  • Prof. Dr. Ekkehard Jost Barbü Lüdi – Ein Wegbereiter des Free Jazz in Europa? Musikalisch und fotografisch belegter Bericht eines Zeitzeugen
  • Peter Bürli Jazz im Radio in der Schweiz
  • Schaffhausener Jazzgespräche Jazz und mediale Krise

Das erste Schaffhauser Jazzgespräch bildete dann auch den Auftakt zur zweitätigen Arbeitstagung und lud mit dem Titel „Jazz und soziale Krise: Lieber allein als zusammen“ zur Diskussion ein. Ein für die meisten Gäste aus Deutschland weitgehend unbekanntes Thema: der Röschtigraben. Die Überwindung der kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Schweizer Kantonen beschert auch Jazzern, die auf Weltoffenheit und Grenzgängertum schwören, offensichtlich Mühe. Erfolglos waren und sind die Versuche der helvetischen Föderation mittels Kooperation diesem Problem der kulturellen Gräben zwischen der deutschen, der italienischen, der französischen und der rätoromanischen Schweiz zu begegnen. Antworten auf die Frage der daraus folgenden sozialen Krise in der Schweiz suchte man mit organisierten Austauschprogrammen zu begegnen, deren Vor- und Nachteile lebhaft diskutiert wurden.

Einen tieferen Einblick in die Jazzgeschichte der Schweiz bot den Mitgliedern von Radio Jazz Research im Anschluss Saxofonist und Klangforscher Bruno Spoerri. Der Autor und Herausgeber des Werkes „Jazz in der Schweiz“ gab einen Überblick von den Anfängen bis zur aktuellen Situation des Jazz in seinem Heimatland. Unter dem Motto „Von der Tschetzpend zum Halbstarkenbunker“ berichtete der Zeitzeuge vom Jazz in einem Land, das in der Jazzwelt nur am Rande wahrgenommen wird, aber dennoch einige große Persönlichkeiten hervorgebracht hat.

Prof. Dr. Ekkehard Jost porträtierte in einem Vortrag den Schweizer Musiker Barbü Lüdi. Anhand von Fotografien und Musikbeispielen ging Jost der Frage nach, ob der Schweizer Altsaxofonist ein Wegbereiter des Free Jazz in Europa war. Lüdi, mit bürgerlichem Namen Werner Lüdi, ging Ende der 1950er Jahre nach Hamburg, spielte dort in verschiedenen Hardbop-Amateurgruppen und ging um 1963 für kurze Zeit mit der Gruppe von Gunter Hampel auf Tour. Später zog er sich dann von der Jazzszene zurück. Woran Ekkehard Jost unter anderem erinnerte, war seine expressive Improvisationsweise, die so manchen Cool- und Westcoast-Anhänger aus dem Gleichgewicht brachte. Einen Einblick in die Jazz-Radiolandschaft der Schweiz gab es von Peter Bürli, dem Redaktionsleiter Jazz im DRS 2 Radio.

Ein weiteres Schaffhauser Jazzgespräch wurde von einem Referat Dr. Bernd Hoffmanns eingeleitet, der die mediale Krise und das daraus folgende Schattendasein des Jazz in Deutschland skizzierte. Unter dem Titel „Kein Platz für schräge Töne“ zeichnete er ein Bild von der teilweise katastrophalen Situation des Jazz in den deutschen Medien. Im Anschluss diskutierten unter anderem Barbara Gysi, Musikchefin von DRS 2 und Manfred Pabst, Kulturchef NZZ am Sonntag, über die Gefahr, dass der Jazz, angesichts krisenbedingter Umwälzungen in der Medienbranche, in die mediale Bedeutungslosigkeit absinkt. Heftige Kritik übten die Teilnehmer der Diskussion vor allem am Schweizer Fernsehen. Christian Eggenberger, Musikchef von SF Kultur, musste sich die Frage stellen lassen, warum Jazz nicht mehr oder nur noch peripher im Kulturfernsehen stattfindet.

13. Arbeitstagung in Remagen-Rolandseck | 28. und 29. Januar 2010

13. Arbeitstagung, 28. bis 29. Januar 2010 in Remagen-Rolandseck

Jazz & Business

Jazz und Business? Für hartnäckige Puristen und unverbesserliche Romantiker zwei vermeintliche Gegensätze, die Unvereinbarkeit von Himmel und Hölle. Das Image des Underdogs mit Elite-Bewusstsein lässt sie das Selbstmitleid pflegen und ein bittersüßes Klagelied anstimmen: den Randgruppen-Blues. Das Wort „Markt“ mögen sie im Glauben, nicht Teil desselben zu sein, noch geflissentlich überhören. Beim Wort „Vermarktung“ stimmen sie aber ein Requiem an: die Ballade vom Abschied von der Freiheit, also known as JAZZ.

Das Tagungsprogramm

  • Stefan Hentz Die Elbe ruft, der Jazz geht unter? Zur Hamburger Situation zwischen Kultur und Event
  • Arndt Weidler Deutscher Jazz fürs Ausland? „Exporthilfe“ durch das German Jazz Meeting
  • Reiner Michalke & Hans-Jürgen Linke Eine Perspektivverschiebung? Jazz im deutschen Feuilleton
  • Volker Dueck & Martin Laurentius The Next Generation Of Young German Jazz. Was das Jazzbusiness der Szene zurückgibt
  • Matthias Winckelmann & Nils Wülker Big Business? Small Business? Enja Records & Ear Treat Music
  • Paul Zauner Improvisierte Musik als „Kultur-Finanz-Faktor“? Die Vergabepraxis der nationalen Stiftungen (Initiative Musik & Bundeskulturstiftung)

Die Elbe ruft, der Jazz geht unter?

Hamburg & Business ist alles andere als ein Widerspruch. Eine Hansestadt mit großer Handelstradition, derzeit bemüht, ihr kulturelles Image aufzupolieren – hin zu einer chicen, Lifestyle-orientierten Metropole. Die Strategen der Hamburg Marketing GmbH wollen HH als Marke etablieren. Mehr Schein als Sein, monieren die Kritiker. Jüngst schlossen sich Künstler der Stadt zu einem Bündnis zusammen, um zu protestieren: gegen geplante Kürzungen im Kulturetat und gegen die Vermarktung eines hanseatischen Hochglanzimages ohne störende Schönheitsflecken. Ein neues, privat initiiertes Projekt im Spannungsfeld „zwischen Kultur und Event“ ist Elb-Jazz, mitten in die neu gestaltete Hafenstadt platziert: ein Ende Mai erstmals über zehn Bühnen gehendes Festival. Das Ziel: die kulturelle Belebung des Investorenraums Hamburger Hafen. Eine Veranstaltung, die sich an Jazzfreunde, aber auch an Touristen wendet und mit dem Reiz ungewöhnlicher locations lockt. Eine privatwirtschaftlich finanzierte Initiative, von der abzuwarten ist, wie sehr sie die eigene Szene mit einbindet. Man wird sehen. Und hören. Derweil tummeln sich Hamburger Jazzbands an der Waterkant ungleich wärmerer Gewässer, beim Jazzfestival in Dubai…

Deutscher Jazz fürs Ausland? „Exporthilfe“ durch das German Jazz Meeting

Mit Dubai hat Oslo klimatisch wenig gemein, wohl aber das gewinnbringende Glück des Öls. Wovon bisweilen selbst der Jazz profitiert. „That’s it! Enough! No more Norwegians!“, so der nach Remagen überlieferte Ausruf eines langsam an der nordischen Omnipräsenz verzweifelnden Besuchers des London Jazz Festivals. Angesichts des „gut geölten“ Exportsystems der Norweger kommt schnell das Schlagwort vom „Standortnachteil Deutschland“ auf. Auch Schweden, die Niederlande und Frankreich scheinen weiter im Bemühen zu sein, ihren Kreativkräften ausländische Märkte zu erschließen. In dieser Hinsicht aufzuschließen, ist Grundgedanke des 2006 ins Leben gerufenen German Jazz Meeting, einer im Zweijahresrhythmus stattfindenden Art nationaler Leistungsschau, bei der sich Bands mit zwanzigminütigen Kurzauftritten internationalen Festivalleitern und Veranstaltern präsentieren. Auch wenn aussagekräftige Ergebnisse über die Effizienz noch nicht vorliegen, so lässt sich feststellen, dass mittlerweile insbesondere jüngere Jazzmusiker aus hiesigen Breiten im Ausland mehr als zuvor wahrgenommen werden. Improvisatoren, die zudem offener für Marketing-Maßnahmen sind als die ältere Generation und die Scheu vor Öffentlichkeits-orientierter Selbstdarstellung abgelegt haben. Der langjährige Exportweltmeister Deutschland hat sich mit der Ausfuhr seines jazzmusikalischen Guts ebenso lange schwer getan. Doch es tut und bewegt sich was. German Jazz Meeting und Goethe sei dank.

Eine Perspektivverschiebung? Jazz im deutschen Feuilleton

Der in den letzten Jahren vollzogene quantitative und qualitative Aufschwung der hiesigen Szene ist unüberhörbar – indes, kaum „lesbar“. Im Blätterwald der Feuilletons taucht Jazz immer seltener auf, verdrängt vor allem vom Pop. Visuelle, weltanschauliche und (pseudo)soziologische Aspekte anstelle von musikalischen Analysen und Beleuchtungen. Jazz-Rezensionen: ein Format vom Aussterben bedroht. Neben (Zeilen-)Platzhirschen wie Oper und Neue Musik bevölkern die A- bis C-Prominenz der Stars und Sternchen des Pop, aber auch kultige Indie-Rockbands wie Vampire Weekend die Kulturseiten Eine Präsenz, die aus dem jazzenden Lager allenfalls – wenn überhaupt noch – dem guten (& bösen) alten Keith Jarrett zuteil wird. Popjournalisten wittern wachsende Freiräume für ihr botschaftsschwangeres Sendungsbewusststein. Jazzjournalisten ziehen die ökonomisch reizvollere Rundfunkarbeit vor, Feuilletonisten mit Jazz-Expertise werden immer rarer. Jazz scheint „nicht mehr Teil des Kultur-Kanons“ (Michael Rüsenberg) zu sein. Improvisiertes als Thema ist mehr denn je abhängig vom Interesse und Durchsetzungsvermögen einzelner Redakteure. Les Feuille(ton)s Mortes? Ein Blick ins benachbarte Ausland zeigt, dass für den Jazz nicht nur hierzulande die Kultur-Blätter verwelken. Ausnahme, wieder einmal: Norwegen…

The Next Generation Of Young German Jazz.

Bei den Fachzeitschriften sieht die Situation anders aus. Naturgemäß, möchte man meinen. Doch die aktuelle Lage in Frankreich, Italien und Österreich offenbart, wie wenig auch dieses Segment vor Einschnitten gefeit ist. Die Zahl der Abonnenten in Deutschland erweist sich demgegenüber als vergleichsweise stabil. In den Magazinen spiegelt sich nicht nur die einbrechende Hegemonie der Amerikaner und ein steigendes Selbstbewusstsein des europäischen Jazz, sondern auch das Wachstum der deutschen Szene. Jazz thing hat ihr u.a. mit „Homegrown“ eine eigene Kolumne gewidmet. Eine weitere Initiative ist die in Zusammenarbeit mit dem Label Double Moon Records entstandene CD-Reihe „Jazz thing Next Generation“: Junge Formationen aus dem deutschsprachigen Raum können hier ihr Debüt veröffentlichen und erhalten als Starthilfe für ihre Karriere einen Vertrag für ein (erstes) Album. Inzwischen ist daraus eine 31 Produktionen umfassende Serie geworden, die sich nach zu erwartenden Anfangschwierigkeiten „mittlerweile gut trägt“, so Volker Dueck von Double Moon Records. Dass mittlerweile zwei Drittel der Bewerbungen (Volker Dueck: „Einsendungen, die durchweg innovativer sind“) aus Berlin kommen, macht deutlich, wie sehr die Hauptstadt auch in jazzmusikalischer Hinsicht zum Epizentrum avanciert.

Big Business? Small Business?

Auch wenn das ökonomische Wagnis einer Debütreihe sich mehr oder weniger gut trägt, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Krise der Musikindustrie alles andere als überwunden ist. Im Gegenteil: „Der CD-Markt ist kollabiert“ (Dueck). (Legale) Downloads machen gerade einmal zehn bis zwölf Prozent des Umsatzes aus. Der Fachhandel droht gänzlich zu verschwinden, Fachgeschäfte mit Beratung lassen sich längst an einer Hand abzählen. Wie andere Firmen auch, so hat enja Records die Anzahl der Produktionen von einstmals 35 auf 15 pro Jahr reduziert. Wenn es einen Bereich gibt, in dem sich die Verkaufszahlen in letzter Zeit erhöht haben, dann im Rahmen von Konzerten. Ebenfalls nimmt die Zahl der Eigenverlage und Musikerlabel zu. Der Trompeter Nils Wülker hat als erster deutscher Musiker, der bei SONY unter Vertrag stand, den Schritt von einer Major Company hin zur Eigenvermarktung vollzogen. Und das mit Erfolg. Seine auf Ear Treat Music veröffentlichten Alben verkaufen sich „mittlerweile besser als zu Sony-Zeiten“, sagt Wülker. Jazzmusiker müssen eben auch in Überlebensfragen kreativ sein.

Improvisierte Musik als „Kultur-Finanz-Faktor“?

Eigeninitiative ist gefragt. „Man muss brennen, dann kann man die Musik auch verkaufen“, sagt Paul Zauner, Labelchef, Musiker, Veranstalter und Netzwerker, erfahren im Aufspüren und Umgang mit öffentlichen Geldern und Fördermitteln. Das Wissen um die Möglichkeiten, die sich durch Institutionen wie die Bundeskulturstiftung ergeben, durch das Förderprojekt für Zeitgenössische Musik, das Netzwerk Neue Musik oder das Fördermodell Initiative Musik, ist eines. Etwas anderes, sie für sich nutzen zu können. Da ist nicht nur ein bürokratisches Know-How vonnöten, das dem einer Behörde gleichkommt, sondern einmal mehr Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen. Auch und gerade gegenüber der Subventions-verwöhnten Neuen Musik und ihren Lobbyisten, im Vergleich zu den „verträumten Jazzern ungleich aggressiver in ihrer Akquise“ (Zauner).Neben vielen neuen Erkenntnissen hat Jazz & Business eine Binsenweisheit bekräftigt, die „so alt wie der Jazz“ (Ekkehard Jost) ist: Vieles, wenn nicht Alles hängt an der Initiative Einzelner, am Engagement von „Verrückten, die brennen“. So gilt die Losung – wie schon immer und jetzt erst recht: Packen wir’s an! „JAZZ WE CAN!“ lautete noch das zeitgeistige Motto beim JazzFest Berlin 2008 kurz nach der Wahl Obamas. Wir wär’s mit dem Slogan Spitzhacken-bewaffneter Straßenarbeiter in (dem jazzmusikalisch so lukrativen Markt von) Japan, die da rufen: „ENJA! ENJA!“ – „Hauruck! Hauruck!“

12. Arbeitstagung in Blankenberg/Hennef | 17. und 18. September 2009

12. Arbeitstagung, 17. bis 18. September 2009 in Blankenberg/Hennef

Jazz in England

Die englische Jazzszene gilt nicht erst seit den 1980er Jahren als besonders kreativ und teilweise skurril. Der Gedanke einer europäischen Improvisationsmusik lässt sich vor allem an einer Gruppe wie den Loose Tubes festmachen, denen es überzeugend gelang, die verschiedenen Traditionen des Jazz miteinander in Einklang zu bringen. Dieser Länderschwerpunkt wurde von drei Autoren bewältigt, die zu den ausgewiesenen Kennern des Jazz in England zählen: der Musikjournalist Selwyn Harris, der Jazzforscher Stuart Nicholson und der Jazzclub-Programmgestalter Oliver Weindling.

Das Tagungsprogramm

  • Max Hendler & Ekkehard Jost Zur Geschichtsschreibung der frühen Jazzstile. Max Hendler im Gespräch mit Ekkehard Jost
  • Stuart Nicholson Old Days, Old Bands. British Jazz 1919 – 1945
  • Michael Rüsenberg The Drummer writes back! Anmerkungen zu Bill Brufords „The Autobiography“
  • Stuart Nicholson The Flowering of European Jazz. British Jazz 1945 – 1975
  • Selwyn Harris The Post-Loose-Tubes-Era. British Jazz since 1985
  • Oliver Weindling British Jazz Musicians in 2009. How they survive, how they are heard

11. Arbeitstagung in Linz | 17. bis 20. Juni 2009

Jazz und Film

Die Mitglieder vom Radio Jazz Research e.V. treffen sich mit Filmwissenschaftlern und weiteren Gästen, um am 17. und 20. Juni über das Thema „Jazz und Film“ zu diskutieren – in der Kulturhauptstadt 2009, Linz in Oberösterreich.

Das Tagungsprogramm:

  • Selwyn Harris Jazz and his shifting role in Contemporary Cinema
  • Stuart Nicholson Voices from Europe. Jazz and Cinema
  • Lisa Gotto Trans-Formieren. Zum Verhältnis von Bild und Ton in „The Jazz Singer“ (USA 1927)
  • Franziska Buhre Verkörperte Korrespondenzen: Jazz-Tänze zwischen Josephine Baker und Thelonious Monk
  • Werner Wittersheim „Immer nur lächeln, immer betrübt?“ Anmerkungen zu „High Society“ (USA 1956)
  • Franz Krieger Von der sinnlichen Erweiterung zur Erweiterung der Sinne. Gedanken zu Jazz, Film und musikalischer Analyse
  • Bernd Hoffmann Way upon the Suwannee River. Jazz-Adaptionen im frühen experimentellen Tonfilm der USA
  • Claudio Puntin Bewegte Klänge. Improvisierte Musik zum Film des Regisseurs Kit Hung: „Soundless Wind Chimes“ (Hong Kong, Schweiz 2009)
  • Niels Klein Symmetriaden – Jazzkompositorische Umsetzung von grafischen Formen
  • Christoph Czech Filmmusik ohne Film

Die Visualisierung der populären Musik bietet zunehmend Jazzmusikern Platz auf der Leinwand. Ob in historischen Band-Dokumenten oder aktuellen Konzerteinspielungen, in Schwarz-Weiß oder Farbe, das bewegte Leben des Jazz zeigt sich heute vor allem mittels DVD. Es ist ein Bild-Repertoire, das stetig anwächst und der Kultur- und Filmwissenschaft neue Quellen erschließt. Den „swingenden“ Bildern auf der Spur sind die Teilnehmer dieser Radio Jazz Research-Tagung, die ganz unterschiedliche Themen zu „Jazz und Film“ präsentiert: Neben „Short Movie“-Formaten der späten 1920er und ’30er Jahre wird die Hilfestellung visueller Quellen bei der Transkription improvisatorischer Strukturen diskutiert, zudem die Ideengeschichte der „Jazz“-Spielfilme skizziert.

Als Begleitprogramm zur Tagung „Jazz und Film“ werden historische und aktuelle Jazz-Filme gezeigt. Nach der Tagung gibt es am 19. und 20. Juni im Linzer Jazzclub Cheese ein Konzertprogramm: u.a. mit dem Fritz Pauer Trio und eine deutsch-französische Formation um die beiden Saxofonisten Niels Klein und Stéphane Guillaume.Partner: Kulturradio des Westdeutschen Rundfunks, WDR 3 & Kulturhauptstadt 2009 Linz

10. Arbeitstagung in Graz (in Kooperation mit dem Institut für Jazzforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz und der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung) | 15. bis 17. Mai 2009

Im Jahre 1969 wurde die „Internationale Gesellschaft für Jazzforschung“ mit dem Sitz an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz gegründet. Dieser 9. Jazzwissenschaftliche Kongress stand im Zeichen des Jubiläums von 40 Jahren Jazzforschung in Graz und gab den Veranstaltern Anlass, im Rahmen des Generalthemas „Jazz and Jazz Research in Europe“ auch auf die Geschichte der Jazzforschung in Europa Bezug zu nehmen.
Neben der Analyse von musikalisch- stilistischen Tendenzen in Europa war die Jazzforschung als ein Teil der europäischen Musikwissenschaft aus der Sicht von Musikologen, Jazzhistorikern, Musikjournalisten und Musikern Gegenstand von Untersuchungen. Dazu waren Referenten aus Italien, Frankreich, England, Skandinavien, den USA, Deutschland und Österreich eingeladen.

Das Tagungsprogramm

  • Herbert Hellhund (Hannover) Was ist authentisch? Einige Gedanken und Beobachtungen zum Jazz, nicht nur in Europa
  • Vincent Cotro (Tours) Perspectives and Recent Tendencies in French Jazz. An Overview
  • Jürgen Arndt (Detmold) Misha Mengelberg und Peter Brötzmann in improvisatorischen Dialogen zwischen Europa und den USA
  • Hans-Joachim Hessler (Duisburg) Charles Mingus in Europa, Charles Mingus und Europa, oder Was Charles Mingus über Europa dachte
  • Manfred Straka (Graz) Cool Jazz in Europa
  • Ekkhard Jost (Gießen) Stilistische Strömungen im deutschen Nachkriegsjazz der 1950er Jahre
  • Bruce Boyd Raeburn (New Orleans) Beyond the Spanish Tingue Hispanics, Latinos and Italiens in Early New Orleans Jazz
  • Luca Cerchiari (Padua) Jazz’s Songbook The European Repertoire
  • Maximilian Hendler (Graz) Nicolas Simion – Wanderer zwischen den Welten
  • Laurent Cugny (Paris) Jazz Research in France
  • Tor Dybo (Kristiansand) Jazz Research in Scandinavia
  • Tony Whyton (Salford) Jazz Research in Great Britain
  • Luca Cerchiari (Padua) Jazz Research in Italy
  • Christa Bruckner-Haring (Graz) Jazz Research in Spain
  • Bernd Hoffmann (Köln) „What a wonderful world“ – Ein fragmentarischer Blick auf die deutsche Jazzforschung
  • Franz Kerschbaumer (Graz) Jazzforschung in Österreich
  • Hermann Rauhe (Hamburg) Jazzforschung aus der Sicht als Gründungsmitglied der internationalen Gesellschaft für Jazzforschung

Die Referate werden größenteils in Band 42 (2010) des Jahrbuches „Jazzforschung/Jazz Research“ publiziert. In Kooperation des ORF mit dem Westdeutschen Rundfunk wurden Berichte und Interviews zumKongress im Rahmen einer Ö1/WDR3 Jazznacht am 23.Mai 2009 ausgestrahlt.

9. Arbeitstagung in Münster | 8. bis 9. Januar 2009

Kunstfertigkeit im Moment des Entstehens: Improvisation

Vielfältig sind die musikalischen Konzepte im Jazz: die Annäherungen an eine Komposition, die motivischen Wechsel und Klangfarben, das stete Wiederholen von Formen und rhythmischen Strukturen. Der zentrale Gedanke des Jazz führt aber unweigerlich zur Frage: Was ist Improvisation?

Das Tagungsprogramm

  • Stefan Hentz Improvisation – Hinführung zu einem schwierigen Thema
  • Ekkehard Jost Anmerkungen zur Improvisation
  • Franz Krieger Verborgene Vielfalt? Jazzgesang und sein irisierendes Verhältnis zur Improvisation
  • Günther Huesmann Metrische Improvisationen bei Wynton Marsalis
  • Andreas Eichhorn „Improvisation“ im Kontext der Inspirationsmythen des 19. Jahrhunderts
  • Odilo Clausnitzer Jazz ohne Improvisation?

Improvisation ist Variation in den älteren Spielmodellen des New Orleans- und Chicago-Jazz, Transformation im Swing. Sie verändert Melodien oder harmonische Abläufe – bis hin zur völligen Demontage von Formen und gruppendynamischen Strukturen im Free Jazz. Das Improvisieren gibt konkrete Auskünfte über stilistische Entwicklungen oder Brüche: Sie ist Kunstfertigkeit und Künstlertum im Moment des Entstehens, verlässlich abrufbar als zuvor geprobtes Muster im Prozess der Kreativität.

Die Analyse dieses schillernden Begriffs lässt das „Grundsätzliche“ im Jazz sicht- und hörbar werden. Die verschiedenen Improvisationsmodelle verraten die Herangehensweise von Improvisatoren und spiegeln sich in Bandkonzepten, die verschiedene kreative Impulse zu einer neuen Idee bündeln. Die Unverwechselbarkeit der amerikanischen und der europäischen Improvisationsmusik entsteht aus der schöpferischen Verwendung dieser verschiedenen Spielmodelle. Die Improvisation aber bestimmt den eigentlichen prozessualen Verlauf des Klangmaterials – und damit des Jazz.

Diesem für den Jazz zentralen Problembündel widmete sich die 9. Arbeitstagung von „Radio Jazz Research“, die im Vorfeld des 22. Internationalen Jazzfestivals in Münster stattfand. Thematisiert wurde u.a. die von Peter Niklas Wilson aufgestellte These von Jazz als Lebenshaltung („Hear and Now“). Gegenstand der Analyse war das improvisatorische Schaffen amerikanischer und europäischer Jazzmusiker, wobei die verschiedenen Aspekte des Begriffs „Improvisation“ beleuchtet wurden.

Ekkehard Jost widmete sich mit seinen „Anmerkungen zur Improvisation“ der Fragenach den Qualitätskriterien von Improvisation. Günther Huesmann analysierte die formbildende Funktion der metrischen Improvisationen bei Wynton Marsalis, während Franz Krieger in seinem Beitrag „Verborgene Vielfalt? Jazzgesang und sein irisierendes Verhältnis zum Jazz“ anhand verschiedener Aufnahmen von „All The Things You Are“ die stilistischen Merkmale einer jazzspezifischen Gesangsästhetik herausarbeitete.

Andreas Eichhorn widmete sich in einer historischen Betrachtung der überragenden Bedeutung, die die Improvisation im 19. Jahrhundert für Komponisten, Interpreten und Zuhörer hatte.