22. Arbeitstagung in Hamburg (in Zusammenarbeit mit dem Elbjazz Festival) | 23. und 24. Mai 2013

22. Arbeitstagung, 23. bis 24. Mai 2013 in Hamburg (in Zusammenarbeit mit dem Elbjazz Festival)

Köln also. Die gar nicht so heimliche Hauptstadt des deutschen Jazz. Das stand am Ende des von Karsten Mützelfeld geleiteten Podiumsgesprächs, das zunächst noch unter dem saloppen Titel „Städtequizz“ firmierte, sich aber als eine sehr präzise Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in den Städten Köln, Berlin, Frankfurt und Hamburg entpuppte. Mit diesem Gespräch endeten zwei Arbeitstage, bei denen die Frage nach dem Verhältnis von Stadt und Jazz, von Förderung und Club-Wirklichkeit im Zentrum von Vorträgen und Diskussionen stand.

Den Anfang machte Rainer Kern vom Enjoy Jazz Festival mit seinen Thesen zu Entwicklungskonzepten der „kreativen Stadt“ mit den Wechselwirkungen zwischen Kulturereignis und sozialer Kommunikation. Kern erläuterte am Beispiel des Festivals, wie sich zwischen den Städten Ludwigshafen, Mannheim und Heidelberg – allesamt Spielstätten von Enjoy Jazz – die alte Publikumsmentalität aufbrechen lässt: Kamen bislang die Besucher eines Konzertes fast ausschließlich aus der jeweiligen Stadtbevölkerung, lässt sich erkennen, dass mittlerweile eine Wanderbewegung des Konzertpublikums zwischen den Städten entstanden ist. Diese Art des Austauschs, diese Form der Publikumsfluktuation ist innerhalb dieses Problemkreise aber nur einer der vielen Wirkungsaspekte, wie das Angebot kultureller Ereignisse auf ein verändertes Sozialverhalten Einfluss nehmen kann. Rainer Kern bezog sich in seinem Vortrag auf verschiedene, einander gegenübergestellte Theorien zum Konzept einer „kreativen Stadt“, d.h. die Rückkoppelungseffekte zwischen einer Kultur bzw. Kulturförderung, sozialen und kommerziellen Interessen.

Einen Einblick in die Wirklichkeit der Jazz-Clubs, ihre finanzielle Situation, die Publikumszusammensetzung, Programmausrichtungen sowie die verschiedenen Organisationsformen lieferte schließlich das von Martin Laurentius moderierte Podiumsgespräch mit Betreibern aus verschiedenen Städten. Mal wieder bestätigte sich, dass der mehr oder weniger erfolgreiche Tagesbetrieb stärker vom Enthusiasmus und dem künstlerischen Horizont des Einzelnen (samt notorischer Selbstausbeutung) abhängt als von einer doch zumeist eher unter bürokratischen Gesichtspunkten organisierten Fördermaßnahme. Dass letztere unverzichtbar ist, um einer Kultur eine zukünftige Entwicklung zu ermöglichen, ist zwar eine Selbstverständlichkeit, doch in der Praxis orientiert sie sich zunehmend an der Idee einer Repräsentationskultur. Mit anderen Worten: Um als Jazz-Club überlebensfähig zu sein, müssen Kompromisse eingegangen werden, die zu etwas führen, was man salopp als „ästhetische Mischkalkulation“ bezeichnen könnte. Da nun der Schwerpunkt auf Organisation, Förderstrukturen etc. lag, rückte die Frage nach der „inhaltlichen Relevanz“, dessen, was in den Clubs geboten wird, in den Hintergrund der Diskussion. Denn hier würde man das Problem berühren, das von Vereinnahmungstendenzen durch einen kommerziell orientierten Kunst- bzw. Kulturbegriff und von einer latenten Konsenshaltung geprägt ist. Jazz, respektive Kultur erscheint immer mehr unter dem Aspekt der Verwertbarkeit, die am Ende des Ereignisses oder der Förderung steht. Wobei der Begriff „Verwertbarkeit“ nicht notwendigerweise ein ökonomischer sein muss. Es reicht, wenn Kultur zur Bestätigung der herrschenden Systemmechanismen dienen darf.

Das heimliche Problem eines von allen elementar subversiven Zeichen gereinigten Kulturbegriffs, wurde dann in Egbert Rühls Vortrag eklatant – quasi ex negativo. Doch bevor man sich mit dem fragwürdigen Begriff „Kreativwirtschaft“ auseinandersetzen durfte, zeichnete Oliver Weindling mit gewohnt heiterer Belehrsamkeit ein Bild des Londoner Stadtteils Soho in den Jahren 1949 bis 1967. Jazz und Jazz-Clubs am Rande der Halbwelt, eigebettet in einen sozialen Rahmen, der sich an den Grenzen von Schicklichkeit und Legalität bewegte. Erstaunlich war nicht nur die schiere Anzahl der Clubs in diesem doch recht überschaubaren Areal, sondern auch die durchlässig, scheinbar so fest gegeneinander verbunkerten Lager der Traditionalisten und der Modernen war. Jenseits von erhellenden Anekdoten (Unterweltgrößen mit einem Faible für Jazz), oder einer seltsamen Reglementierungspraxis für den 1:1-Austausch britischer und amerikanischer Musiker, war die Bewegung zwischen Anverwandlung des „amerikanischen Originals“ und einer eigenständigen Entwicklung, die sich in diesen Jahren bereits zaghaft andeutete. Soho bot so etwas wie einen Frei-Raum, zumal der Jazz dieser Zeit noch einem gewissen Unterhaltungsbedürfnis entsprechen konnte, die Zeichen einer „Hipness“ und „Coolness“ auch intellektuell noch abgesichert waren – auch wenn die dunklen Blüten des Existentialismus nicht unbedingt zu den Eigengewächsen der britischen Kultur gehörten.

Der Strang der historischen Panorama-Zeichnung setzte sich am zweiten Tag mit dem Thema „New York, New York“ fort: Maximilian Hendler und Bernd Hoffmann spürten den Zeugnissen des Jazz zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach. In Bild und Ton. Wobei die Quellenlage gerade im Bereich der frühen Jazzfilme etwas dünn ist. Zu viele der Kurzfilme aus der Frühzeit des Genres sind verschollen. Doch lässt sich anhand der noch vorhandenen eine interessante Kameraführung bzw. Positionierung und Inszenierung einer Jazz-Band feststellen. Wie typisch oder repräsentativ die Untersuchung allerdings ist, muss allerdings offen bleiben. Als zentralen Punkt – in Musik und Film – markierten Hendler und Hoffmann einerseits die Zuschreibungspraxis in „schwarz“ und „weiß“, die weniger auf der Realität als vielmehr auf Mythenbildung basierte. Vor allem aus den Filmbeispielen, den sogenannten „musical shorts“, wurde ersichtlich, wie dann die „Wirklichkeit der Inszenierung“ (über die Perspektive, das Spiel mit der Totalen und der Isolierung des Solisten) die Mythisierung wiederum zu verstärken versuchte.

Im Bereich der aufgezeichneten (oder als Noten verbreiteten) Musik ist das daran erkennbar, dass etwa das Repertoire der Cakewalk-Stücke durchgehend von Weißen komponiert wurde. Maximilian Hendler wies noch einmal darauf hin, dass sich der frühe Jazz New Yorks aus der damaligen populären Unterhaltungsmusik heraus entwickelt habe. Und positioniert ihn in einem Rahmen anderer kultureller Erscheinungsformen, zu dem er eine wechselseitige Beziehung entwickelte. Das allseits beliebte Erklärungsmodell, es handle sich beim Jazz in New York um ein isoliertes Einzelphänomen, um eine direkte Fortsetzung der afrikanischen Kultur (wobei es sich dabei um durchaus unterschiedliche und auch miteinander nicht zu vereinbarende Einzelkulturen handelt) wird anhand zahlreicher Belege verabschiedet. Dennoch sind die inneren und äußeren Bezüge zu komplex um sie mit eindeutigen Kategorisierungsmerkmalen zu versehen: Es kann letztlich auch nur darum gehen, feste Denk- und Theorieschablonen zu relativieren, sich auf ein Feld ständiger Selbstverunsicherung zu begeben: dorthin, wo über das (alte) Wissen ständig neu improvisiert werden muss.

Jazz-Festivals in deutschen Großstädten: ein Phänomen, das man nicht kritisch genug betrachten kann. Sie sind zunächst und vor allem ein ökonomischer Faktor für die jeweilige Stadt: Sie verkommen zum schmückenden Beiwerk oder als Beleg für die ach so großartige Kulturarbeit, die das Tagesgeschäft, den laufenden Club-Betrieb souverän vernachlässigt – mangels „Event-Charakter“. Womit wir es hier zu tun haben, ist eine auf kurzzeitige Medienaufmerksamkeit ausgerichtete Inszenierung, die nicht groß genug, nicht teuer genug sein muss – zur Förderung eigener touristischer Attraktivität. Es sind Veranstaltungen, die nicht aus einer ästhetischen und kultur-ideologischen Notwendigkeit (vulgo: Leidenschaft, Experimentierlust und kulturpolitischem Widerstand) heraus langsam gewachsen sind – wie etwa seinerzeit in Moers. Vielmehr sind sie als ein großer Event geplant, der bitteschön immer noch größer werden soll – und dabei zu einer sich ständig über „Wachstum“ selbstlegitimierenden ästhetischen Leerlaufmaschine wird; derweil die Club-Szene mit dem Überleben zu kämpfen hat.

Just in der Schnittstelle zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Kreativität und Ökonomisierung siedelt die Hamburger „Kreativwirtschaft“, deren Konzept Egbert Rühl vorstellte. Dem Begriff zugrunde liegt zunächst eine Initiative der Bundesregierung. Auf deren Internetseite heißt es: „Ob Architektur, Musik oder Werbung – die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine vielfältige Branche. Ihr gehören sowohl freiberuflich arbeitende Künstler und Kulturschaffende als auch Kleinstunternehmerinnen und -unternehmer wie Kunsthändler, Agenten und Galeristen an. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Branche zu steigern, hat die Bundesregierung im Jahr 2007 die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft gestartet. Koordiniert wird die Initiative vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und dem Beauftragten für Kultur und Medien.“ Daraus erschließt sich bereits, wie sehr bei allen schönen Ansprüchen letztlich die Ökonomisierung kultureller Erscheinungsformen im Vordergrund steht – nicht zuletzt durch eine Gleichsetzung von „Kunst“ und „Werbung“. Und so führte auch Rühl alle elf Bereiche auf, die von der „Kreativwirtschaft“ gefördert werden – darunter auch „Design“ und „Software“. Was also hat frei improvisierte Musik mit der Entwicklung von Computerprogrammen (oder Computerspielen) eigentlich gemein? Die Zuordnung unterschiedlicher Bereiche (im Bundesministeriumssprech „Branchen“ genannt) zur „Kreativwirtschaft“ erfolgt – so Rühl – auf einem „zugrundeliegenden Kreativimpuls“. Eine Formulierung, die alles und nichts aussagt und lediglich ein Unbehagen an dieser Vertopfung des Unvereinbaren in eine „Kreativenbox“ erzeugt. Jenseits dieser Grundtendenz zum ökonomischen Tunnelblick, versucht das Hamburger Modell einer „Kreativwirtschaft“ sich auf vier Betätigungsfeldern zu engagieren. Laut Egbert Rühl bestehen die Aufgaben darin, 1. die Wahrnehmung (auch die Selbstwahrnehmung) zu stärken; 2. sich um Immobilien (Ateliers, Proberäume etc.) zu kümmern; 3. den Zugang zur Finanzierungsmöglichkeiten zu eröffnen; 4. bei der Vernetzung unterschiedlicher Projekte und Beteiligten zu helfen. All diese Formen des Förderns werden, so Rühl, geleistet ohne ein bestimmtes, ökonomisch verwertbares Ergebnis zu erwarten. Es ist nun aber keine Form der Selbstlosigkeit – denn der Mehrwert, auf den spekuliert wird, ist das, was der Referent „immaterielles Kapital“ nennt. Mithin also einen Zuwachs an Attraktivität innerhalb und ausserhalb der Stadt. Die sozio-kulturellen Studien zeigen, wie wichtig kreative Brennpunkte innerhalb eines urbanen Gebildes sind. In wie weit aber nicht-explizite Abhängigkeiten entstehen, wie stark eine Vereinnahmung vorgeblich freier Kunst (wir reden jetzt nicht von Werbung und Software) für wirtschaftliche, soziale und politische Interessen letztlich intendiert ist oder auf einer unterschwelligen Ebene entsteht, wäre der entscheidende Diskussionspunkt. Auch, wie sich der Jazz, eine Musik der Deregulierung, sich innerhalb solcher Strukturen ästhetisch weiterentwickelt. Doch damit rühren wir an einem Problemkreis, der über das Thema der Tagung hinausweist. An der Frage nämlich, welche soziale Relevanz der Jazz in einer Zeit noch besitzt (oder generieren kann), in der jede Form des Nicht-Einverständnisses sofort in den Mainstream integriert, entschärft und kommerzialisiert wird. Müssen wir uns also von der Idee des Jazz als einer widerständigen Musik verabschieden?

Text: Harry Lachner

Das Tagungsprogramm

  • Jazz and the City
    Rainer Kern: Die kreative Stadt als Entwicklungskonzept
  • Kulturpolitik für Spielstätten
    Diskussionsrunde mit Spielstättenbetreibern über das tägliche Geschäft mit dem Jazz
  • New York, New York
    Maximilian Hendler: Wie klingt diese Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts?
  • Häuserschluchten in dunklem Urwaldton
    Bernd Hoffmann über das Stadtbild im frühen US-amerikanischen Film
  • Jazz in Soho 1949-1967
    Oliver Weindling: A story of sex, race, drugs, art and alcohol in the melting pot of a big city, starring Ronnie Scott, John Dankworth, Chris Barber, Mike Westbrook, Lucian Freud, the Kray Brothers, Dudley Moore and Hymie the Shiv (Over 18s only)
  • Hamburgs Kreativgesellschaft
    Egbert Rühl über Festivalkonzepte für die Stadtgesellschaft
  • Städtequiz: Die heimliche Hauptstadt des Jazz
    Mit Teilnehmern aus Berlin, Köln, Hamburg und Frankfurt

21. Arbeitstagung in Münster (in Zusammenarbeit mit dem 24. internationalen Jazzfestival Münster) | 3. und 4. Januar 2013

Festivals

Zwei Dinge braucht der Jazz: Authentizität und Struktur. Das eine hebt die gelungenen Produkte des Genres aus der Masse des Ähnlichen heraus und macht ihn interessant, das andere sichert seine Reproduzierbarkeit und letztlich seine Existenz – und beide zusammen sorgen in ihrer Dialektik für Spannung. Und so wie dieses Wechselspiel die Spannungsverhältnisse in der Musik jeder einzelnen Band, im Auftreten jedes Solisten in der Wahl der Mittel jedes begleitenden Musikers regelt, so bestimmt sie auch die verschiedenen Ansätze, den Jazz einem Publikum zu präsentieren.

Ganz besonders gilt dies bei den zahlreichen Festivals, deren Bedeutung für die lebendige Präsentation von Jazz in dem Maße gewachsen ist, wie die alltägliche Versorgung mit improvisierter Musik in den Clubs schütter geworden ist. Als Highlights im Jahreskalender tragen Festivals unweigerlich Züge eines Events, erzeugen Aufmerksamkeit und Resonanz in den Medien und schaffen Möglichkeiten, die im alltäglichen Veranstaltungsgeschäft nicht gegeben sind. „Festivals“ waren das Thema der 21. Arbeitstagung von Radio Jazz Research vom 3./4. Januar 2013, der das „24. Internationale JazzFestival Münster“ im Festivalhotel Schloss Hohenfeld einen komfortablen Unterschlupf gewährt hatte.

Sieben künstlerische Leiter von Festivals aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden reflektierten in moderierten Gesprächen über die Bedeutung von Festivals für den aktuellen Jazz im Allgemeinen und ihr jeweiliges Festival im Speziellen. Sie diskutierten das Wechselspiel von alten Hasen und jungen Hüpfern, internationalen Stars und lokalen Newcomern, von etablierten Standards und experimenteller Erneuerung, sie erörterten ihre Strategien von Markenbildung und Hörerbindung und diskutierten das „Altersproblem“ des Jazz und gangbare Wege zur Verjüngung des Jazzpublikums. Der Bogen reichte dabei von den „INNtönen“, die im Geschmack und Charisma ihres künstlerischen Leiters den Pol Authentizität fokussieren, über den Festival-Newcomer „elbjazz“, der seit drei Jahren im Spiel mit dem touristischen Reiz der „Parallelmarke Hafen“ daran arbeitet, den Boden in der „jazzmusikalischen Wüste“ Hamburg für den Jazz zu verbessern oder die „Zomerjazzfietstour“, eine sommerliche Fahrradtour mit musikalischen Zwischenstopps durch das Umland von Groningen in den Niederlanden, die Marcel Roelofs zu einem Festival mit über die Grenzen dringendem Ruf gemacht hat, bis zu etablierten Größen wie dem 1979 gegründeten „Internationalen Jazzfestival Münster“, dem 3-Städte-Festival „enjoy jazz“, das seit 1999 Jahr für Jahr im Herbst die „Rhein-Neckar-Metropolregion“ mit einem auf sechs Wochen gestreckten Reigen von etwa 60 – 100 hochklassigen Konzerten in einen Hotspot des internationalen Jazzgeschehens verwandelt, oder dem bereits 1964 gegründeten „Jazzfest Berlin“,Schaufenster der ARD-Jazzredaktionen und Flaggschiff unter den deutschen Jazzfestivals seit Jahrzehnten.

Alles beginnt mit dem Festivalleiter, und sehr vieles hört auch mit ihm auf. Seine zentrale Bedeutung drückt sich schon darin aus, dass einige von ihnen dieser Tätigkeit schon länger nachgehen. Fritz Schmücker bestimmt die Geschicke des „Internationalen Jazzfestival Münster“ seit 1985, ein Jahr später gründete Paul Zauner sein Festival, das nach einigen Umzügen durch das Innviertel, die österreichische Seite der Grenzregion zwischen Deutschland und Österreich, seit nun zehn Jahren unter dem Titel „INNtöne“ mit dem Zusatz „Jazz auf dem Bauernhof“auf dem Hof der Familie Zauner in Diersbach seine Heimat hat. Kein Wunder also, dass ihre Festivals mit ihnen identifiziert werden und die Zuschauer so stark auf den musikalischen Verstand und die Treffsicherheit des Festivalleiters vertrauen, dass sie es nicht mehr nötig haben, mit prominenten Namen, die auch über den Bereich des Jazz hinaus eine Ausstrahlung haben, die Werbetrommel zu rühren. Bert Noglik, der Leipziger Jazzpublizist, leitete achtzehn Jahre lang das Jazzfest Leipzig, bevor er im vergangenen November mit einem sorgfältig durchdachten Programm, das die vermuteten Ansprüche des in bald 50 Jahren gewachsenen Metropolenpublikums geschickt mit seinen eigenen musikalischen Vorlieben ausbalancierte, sein Debüt als künstlerischer Leiter des „Jazzfest Berlin“ gab. Marcel Roelofs ist seit mehr als zwanzig Jahren mit der „Zomerjazzfietstour“ verbunden, Rainer Kern leitet „enjoy jazz“ seit den Anfängen im Jahr 1999 und der WDR-Jazzredakteur Bernd Hoffmann gründete vor bald zehn Jahren „WDR 3 jazz cologne“, den Vorläufer des „WDR 3 Jazzfest“, und obwohl Tina Heine bisher erst drei Ausgaben von „elbjazz“ verantwortet hat, ist sie anerkannt als die ordnende Instanz hinter der Programmplanung. Man darf, sagt Rainer Kern, beim Programm keine Kompromisse machen, und Bert Noglik bezeichnet die Arbeit des Programmmachers als eine „im weitesten Sinn kreative Tätigkeit“.

Im modernen BWLer-Sprech lässt sich der Anreiz durch die erkennbare Handschrift eines künstlerischen Leiters als Markenversprechen fassen, das für den Zuschauer weit vor der Liste der auftretenden Musiker rangiert. Auf der Kehrseite allerdings, das unterstrichen Tina Heine mit ihrem Vortrag über Marketingstrategien zur Etablierung eines neuen Festivals und Rainer Kern in seinen Überlegungen über die Schwierigkeit, eine Festivalatmosphäre zu schaffen, schafft dieses Markenversprechen einen Bezugsrahmen, der jedem kleinen Baustein des Festivals seine Bedeutung zuweist und an dem sich die gesamte Außendarstellung des Festivals messen lassen muss. Zentrale Überlegungen wie die Gestaltung von Bühnen und Zuschauerräumen, von aber auch Nebensächlichkeiten wie Fahnen, die Aufdrucke an Sponsorenautos, die gastronomische Versorgung während des Festivals und bei jedem weiteren Auftreten der Marke Festival, „es ist das Gesamtpaket“,  fasst Fritz Schmücker zusammen, es kann nur funktionieren, „wenn die Dramaturgie jedes Abends ein ganz neues Erlebnis bietet und den Versuch unternimmt, auch ein ungeübtes Publikum mitzunehmen.“

In der Palette der Festivalleitertemperamente verkörpert der bedacht argumentierende Intellektuelle Noglik den einen Pol. Paul Zauner, der österreichische Posaunist, Agraringenieur und Biobauer, der Mitte der Achtziger Jahre ein Jazzfestival ins Leben rief, das seit mittlerweile zehn Jahren mit dem Untertitel „Jazz auf dem Bauernhof“ zuhause bei den Zauners in einer Kulisse stattfindet, wie sie unentfremdeter, privater kaum vorstellbar ist, beharrt in diesem Zusammenhang auf der Unmittelbarkeit seines Bauchgefühls, das keinerlei konzeptioneller Leitplanken bedürfe. Allein die unverstellte Authentizität seiner Intuition trage Sorge für die nötige Abwechslung und Spannung im Programm, für das Nebeneinander von großen, bekannten Stars der internationalen Szene und weniger bekannten Acts, die häufig aus der Region stammen und dem Publikum Entdeckungen ermöglichen. Diese radikale Subjektivität, die familiäre Nähe, die von der Programmauswahl bis zur Nahrungsversorgung mit dem legendären selbst gebrannten Schnaps des Nachbarn das ganze Festival bestimmt, zieht, so sieht es Zauner, sein Publikum immer wieder auf seinen Bauernhof, jede Beschäftigung mit formalen Konzepten, mit inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, instrumentaler oder geographischer oder stilistischer Art, jede willentliche Zielgruppenansprache würde diese Subjektivität abmildern und in ihrer Konsequenz die stärkste Qualität des Festivals beschädigen: die Authentizität, die sich über alle Generationsschranken hinweg vermittelt. Spezielle Kinderprogramme oder andere Versuche des „audience development“ wären von vornherein zum Scheitern verurteilt. Man kann ja auch niemanden mit Argumenten von der Liebe überzeugen.

So einig sich die Festivalmacher darin waren, ihre Intuition als die wichtigste Ressource ihrer Arbeit zu betrachten, so deutlich unterscheiden sie sich darin, wie sie diese Intuition in ein institutionelles Gefüge einbringen, wie stark sie ihre Verantwortung gegenüber gewachsenen Strukturen empfinden und selbst versuchen, ihre Festivalarbeit strukturell so weit abzusichern, dass die Festivals als Impulsgeber für das gesamte Jazzschaffen in die Region und darüber hinaus wirken können. Preisvergaben, wie sie in Münster oder beim „WDR 3 Jazzfest“ und in diesem Jahr zum ersten Mal auch in Hamburg im Programm stehen, jazzwissenschaftliche Symposien oder vertiefende Vermittlungsangebote, wie bei „enjoy jazz“ sind hierfür die üblichen Mittel. Naturgemäß haben die Organisatoren der größeren Festivals die Verantwortung, mit ihren Festivals auch die Zukunft des Genres über die begrenzte Spanne ihrer persönlichen Beteiligung hinaus mit zu befruchten, stärker im Blick: Bert Nogliks „Jazzfest Berlin“ hat in den bald fünfzig Jahren seines Bestehens immerhin schon einige Wechsel an der Spitze erlebt ohne sich im Wandel untreu zu werden. Gleichzeitig hat das Festival organisatorische Schlacken angesetzt und ist zu dem sprichwörtlichen Tanker geworden, dessen Kurs sich nur in kleinen Schritten, mit klarer Zielsetzung und mit langem Atem verändern lässt. Rainer Kern, der Leiter von „enjoy jazz“oder auch der WDR-Jazzredakteur Bernd Hoffmann, der unter dem Dach seines Senders sein „WDR 3 Jazzfest“ in den kommenden Jahren auf Wanderschaft durch NRW gehen lässt, stehen dagegen stärker im Sturm, beide, der eine im Sender, der andere in den Untiefen der Kommunalpolitik dreier wetteifernder Städte, müssen Allianzen schmieden und sehr genau darauf achten, dass alle an der Festivalveranstaltung beteiligten Instanzen das Festival als einen Erfolg verbuchen, Sektempfänge, Freundeskreistreffen, Arbeitsgruppen machen daher einen notwendigen und umfangreichen Teil ihrer Arbeit aus.

Zwischen all diesen eher organisatorischen Überlegungen war der Vergleich, den der Luzerner Musikwissenschaftler Olivier Senn zwischen den grundverschiedenen Auslegungen von Modaler Improvisation von Miles Davis und John Coltrane als Hauptsolisten in einer und derselben Aufnahme des Standard „If I Were a Bell“ des Miles Davis Quintet im April 1960 in Zürich, für  die Tagungsteilnehmer eine willkommene Erholung. Während Davis das modale Spiel zur Grundlage einer radikalen Vereinfachung seiner Improvisationssprache nimmt, sich konsequent auf das Tonmaterial des zugrunde liegenden Modus beschränkt und die Dichte seiner Improvisation zugunsten der Klarheit der melodischen Idee zurück schraubt, überlagert Coltrane die Statik der modalen Harmonie mit einer Kaskade von in regelmäßigen Sprüngen verschobenen Zwischenakkorden, die er hochvirtuos mit „sheets of sound“ umspielt, deren exakter Tonverlauf in der Transkription kaum noch verlässlich zu rekonstruieren ist. Senn macht keinen Hehl daraus, dass sein Vortrag die Grenzzone zwischen Analyse und Spekulation umspielt, eine Region, in der sich der Jazz offenbar wohler fühlt als zumeist seine musikwissenschaftliche Begleitung.

Text: Stefan Hentz

Das Tagungsprogramm

  • Stilfragen
    Herbert Uhlir im Gespräch mit dem Festivalleiter Bert Noglik
  • Der kleine Festival-Atlas
    Festivalmacher stellen ihre Festivals vor: Paul Zauner, Marcel Roelofs, Fritz Schmücker und Bernd Hoffmann
  • Kontrastierende Konzepte modaler Improvisation
    Oliver Senn über Miles Davis’ und John Coltranes Soli in “If I Were A Bell” (Kongresshaus Zürich, 8. April 1960)
  • Enjoy Jazz im Gespräch
    Fragen an den Festivalmacher Rainer Kern
  • Marketing Strategien und Festivals
    Tina Heine über das Elbjazz Festival

20. Arbeitstagung in Rheinsberg (in Zusammenarbeit mit dem BuJazzO) | 15. bis 18. August 2012

Jazz & Pädagogik

Radio Jazz Research, 15.-18. August 2012, Rheinsberg

Die Mitglieder von Radio Jazz Research fragten vorsichtshalber zweimal nach: Die jungen Musikerinnen und Musiker des Bundesjazzorchester hatten tatsächlich den eben verklungenen Auszug der Jazz-Komponistin Maria Baptist vom Blatt gespielt. Das Bundesjazzorchester ist seit 25 Jahren gespickt mit Musikerinnen und Musikern des hiesigen Spitzenachwuchses. Während der 20. Radio Jazz Research Tagung in Rheinsberg, die zeitgleich zu dessen 50. Arbeitsphase stattfand, machte es seinem Ruf wiederholt alle Ehre.

Einblicke in die Probesituation der Komponisten und Dirigenten Maria Baptist, Niels Klein und Jiggs Whigham gehörten zum Programm der Tagung in Rheinsberg, die sich um das Thema „Jazz & Pädagogik“ drehte. Beschwingt von den die Tagung flankierenden Zusammentreffen mit dem Bundesjazzorchester vertieften sich die Mitglieder drei Tage lang in Diskussionen um Vermittlungsstrategien, Hochschulausbildung und Nachwuchsförderung.

Ekkehard Jost machte mit seinem Rückblick auf mittlerweile fast 50 Jahre Jazz an Hochschulen deutlich: Jazz als oral tradierte Musik lässt sich nur schwer in Unterrichtseinheiten pressen. Der Hochschulkosmos läuft Gefahr, gleichförmige Musiker zu produzieren, die nicht über trial & error zu ihrem eigenen Sound finden, sondern hochvirtuos das nachspielen, was schon da ist. Dieser Umstand wird durch die europaweite Gleichschaltung der Ausbildungen in Bachelor und Master verstärkt, wie die Hochschulprofessoren Dieter Manderscheid (Osnabrück), Florian Weber (Köln) und Thomas Zoller (Dresden) bestätigten. Einblicke in derzeitige Studienordnungen offenbarten den Anreiz, möglichst schnell credit points zu sammeln, aber nicht einer inneren Logik des Lernens zu folgen.

Dem steht gegenüber, dass man alleine in den USA an mittlerweile mehr als 200 Instituten einen Abschluss in Jazz machen kann, Tendenz steigend. Und das Niveau der heutigen Musiker sehr viel früher sehr hoch ist, was eine Szene weiterhin lebendig hält. Der Labelbetreiber Volker Dueck äußerte als erster den Wunsch, Musikern ein Bewusstsein für die Richtlinien des Musikmarktes zu vermitteln. Hier herrsche oft eine Diskrepanz zwischen der musikalischen Virtuosität und der Fertigkeit im Umgang mit Veranstaltern, Bookern, Journalisten und Förderern des Jazz.

Stuart Nicholson thematisierte ein Problem, was selten ausbleibt, wenn es um den Jazz geht. Wie können die jüngeren Generationen (wieder) begeistert werden? Vielleicht durch einen frühzeitigen Kontakt mit der Musik? Daran glaubt jedenfalls die Union Deutscher Jazzmusiker. Mit einer Mitgliederzahl von mittlerweile über 100 und einem erst kürzlich neu gewählten Vorstand hat sich die UDJ unter anderem das Ziel gesetzt, Jazz in den deutschen Unterrichtsplänen zu verankern.

Sebastian Scotney setzte dort an, wo öffentliche Bildung aufhört, bei privaten Stipendien. Diese fangen oft auf, was Hochschulen vermissen lassen, doch oft steckt natürlich der Wille nach einer Imagepolitur für die verantwortliche Firma dahinter. Augenscheinlich an dieser Stelle: Im Netzwerk der Vermittler des Jazz sind wirtschaftliche Interessen mittlerweile ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Die Diskussionen der Tagung zeigten, dass die Defizite in der Vermittlung Improvisierter Musik an unterschiedlichen Stellen zu verorten sind. Eine Szene kann langfristig kein stabiles Netzwerk aufbauen, wenn sie sich ständig mit mangelnder Finanzierung und mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung konfrontiert sieht. Durch die Digitalisierung passiert außerdem eine Verschiebung der Verantwortungen. Wenn ein Musiker theoretisch nicht nur seine Musik sondern auch das Marketing, das Booking und die Promotion selbst übernehmen kann, welche Verantwortung kommt dann den Redakteuren, Veranstaltern und Labelmachern zu? Wie überlebenswichtig die angesprochenen außermusikalischen Fähigkeiten für die Jazzmusik sind, zeigt sich in ihrem Inneren selbst, wie Julia Hülsmann am Ende verdeutlichte. Die UDJ kranke vor allem an ihrer Handlungsunfähigkeit – weil sich keiner ihrer Mitglieder im Bürokratiedschungel zurecht findet.

Die Tagung in Rheinsberg wurde dankenswerterweise durch den Förderkreis Jazz e.V. ermöglicht, der dafür Mittel aus der Stiftung Deutsche Jugendmarke zur Verfügung stellte.

Text: Tinka Koch

Das Tagungsprogramm

Visionen, Wunder und Ernüchterungen

  • Prof. Dr. Ekkehard Jost: Jazzlernen einst und jetzt
  • Prof. Thomas Zoller: Bereit für den Augenblick – ein systematischer Ansatz

Demonstrationen des Bundesjazzorchesters
Praxisübungen mit ausgewählten Kompositionen – Bandleader: Prof. Maria Baptist, Prof. Jiggs Whigham und Prof. Niels Klein

Förderungs-Systeme

  •  Sebastian Scotney: „Tomorrow is the Question!“ – Traditional and New Ways leading to a Jazz Career
  • Jörg Heyd: Junge Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker im öffentlich-rechtlichen Rundfunk
  • Volker Dueck: Von den Trüffelschweinen der Musikindustrie – Förderungsansätze der Plattenlabels

Hochschul-Strategien zur Vermittlung des Jazz

  • Prof. Dieter Manderscheid: Musikhochschule Köln – Tradition und Zukunft
  • Prof. Florian Weber: Musikhochschule Osnabrück – Neue Perspektiven der Jazzvermittlung

Das kommende Jazz-Leben

  • Tinka Koch: Vom Motivieren und Desillusionieren – Fragen an die UDJ-Vorsitzende Prof. Julia Hülsmann zur aktuellen Situation der Jazz-Pädagogik
  • Prof. Stuart Nicholson: Is Jazz Education providing audiences of the future? – A look at changing audience demographics

19. Arbeitstagung in Burghausen | 15. bis 17. März 2012

19. Arbeitstagung, 15. bis 17. März 2012 in Burghausen

Wild Card – Themenoffene Tagung

Während oben auf Europas längster Burganlage die ARD die Lügengeschichten des Barons von Münchhausen dreht, begeben sich in ihrem Schatten wackere Gesellen auf die Suche nach jazzmusikalischen Wahrheiten. Recherchen über ein kulturell ungeliebtes Kind in einem ehemaligen Waisenhaus, das heute den freundlicheren Namen „Haus der Begegnung“ trägt…

Das Tagungsprogramm

Donnerstag, 15. März, 15.00 Uhr – 18.00 Uhr

  • Hans-Jürgen Linke Nach Berlin! Zur regierungsoffiziellen Musikförderung in Deutschland
  • Ekkehard Jost Die Musikwissenschaft und der Jazz – Anmerkungen zum jazzbezogenenen musikologischen Lehrangebot an deutschsprachigen Universitäten und Musikhochschulen
  • Pierre Alexandre Tremblay Splice: Blurred boundaries in Post-Free-Jazz practice

Freitag, 16. März, 10.00 Uhr – 16.00 Uhr

  • Max Hendler Slave Songs of the United States 1867
  • Oliver Weindling Zur aktuellen Situation der improvisierten Musik in Frankreich
  • Franz Krieger Interaktion mit dem Jazzpublikum – eine audiovisuelle Spurensuche
  • Herbert Uhlir im Gespräch mit Johannes Kunz (Salzburger Jazzherbst

Zusammenfassungen der Vorträge von Hans-Jürgen Linke und Pierre Alexandre Tremblay siehe unten

Während die Teilnehmerzahl bei radiojazzresearch langsam aber stetig wächst, nimmt – so müssen wir den Worten Ekkehards Josts entnehmen – die Präsenz des Jazz im akademischen Umfeld der Musikwissenschaft, die „weiterhin größte Zurückhaltung“ ausübt, eher ab als zu: War Jazz als Forschungsgegenstand um 1960 „nicht existent“, genoss er ab 1973 in Giessen eine ungeahnte, wenn auch vorübergehende Blüte und fristet heute bundesweit allenfalls ein Schattendasein.

Über allzu geballte Präsenz US-amerikanischer Musiker in einem Pariser Club, eine daraus resultierende „musicians’ attack“ gallischer Improvisatoren und einen „new sense of a jazz community“ berichtete Oliver Weindling. Der hörende Blick über den Tellerrand germanischer Improvisationskultur hinaus ist – in erfreulicher Parallelität zur wachsenden Internationalität der Mitglieder – längst Alltag bei RJR. Im an der Grenze zu Österreich gelegenen Burghausen lag ein Exkurs in Austrias Jazzlandschaft besonders nah: In einem Gespräch Herbert Uhlirs mit Salzburger Jazzherbst-Leiter Johannes Kunz erfuhr die erlauchte Runde von einem mit einer Millionen Euro Etat gesegneten Festival, bei dem „große Sachen sich rechnen müssen und das Sponsoring in die Finanzierung der kleinen“ geht.

Die leidige Ökonomie – für eine dauerhaft darbende Minderheitenkultur ein Dauerthema – bestimmte den Vortrag von Hans-Jürgen Linke: Seine Analyse der regierungsoffiziellen Musikförderung in Deutschland konstatierte deutliche Defizite, eine allgemeine Berlin-Lastigkeit und eine lahmende Exportbereitschaft, die dieses in anderen Bereichen so exportfreudige Land nicht unbedingt für den Reigen führender europäischer Kulturnationen qualifiziert.
Einblicke in konkrete musikalische Praxis lieferten zwei Beträge: Der kanadische Wahl-Engländer Pierre Alexandre Tremblay präsentierte sich als Repräsentant der „digital natives“ – einer Generation, für die der Computer so selbstverständlich ist wie für einen Bayern das Weißbier, mit polyperspektivischer „we don’t care“-Attitüde, frei von jeglichen Grenzziehungen und der gefühlten Verpflichtung, irgendeinem historischem Erbe gerecht werden zu müssen, daheim in einer Grauzone, in der sich alles mischt und alles erlaubt ist.

Franz Krieger untersuchte das weite Feld der Interaktion von Musikern mit ihrem Publikum, Animationstechniken und Praktiken der Emotionalisierung, Strategien des Einbeziehens, des Suggerierens von Spontaneität bis hin zum Mittel des inszenierten, wohl kalkulierten Humors. All dies ließ sich beim abendlichen Konzertbesuch in der Wackerhalle verifizieren, gekrönt von den Bemühungen, die gewonnenen Erkenntnisse in den Tiefen und Untiefen eines Jazzkellers zu vertiefen.
Maximilian Hendler tauchte tief in die jazzmusikalische Frühgeschichte und die ihr vorausgehende Praehistorie ein: graue Vorzeiten, die aus seiner Forschungssicht kaum schwarz denn eher weiß geprägt sind – kulminierend in der Aussage, allenfalls der Verve komme aus Afrika, das Material hingegen nicht.

Das Bemühen von RJR, aktuelle Phänomenen als auch die Historie des Jazz aufzuarbeiten, findet ihre Analogie im zweigeteilten Stadtbild Burghausen: unten die Geschichte atmende barocke Altstadt, die ein Vorgänger Sarkozys, Napoleon, mit dem Ausruf „voila, la ville souterraine!“ unsterblich machte -, oben die Neustadt, die ästhetisch zu würdigen bislang noch niemandem gelungen ist. Eine Taxifahrerin, die angesichts der geballten Präsenz von Schauspielern, Jazz- und Fußballfans während der Jazzwoche rastlos zwischen Burghausens Ober- und Unterwelt pendelte, konnte ihr Glück kaum fassen: „D’Sunn hot schin, Wacker hot gwunna und do hot’s no so an Tschääs gem!“

Karsten Mützelfeldt

Hans-Jürgen Linke Nach Berlin! Zur regierungsoffiziellen Musikförderung in Deutschland

Natürlich muss Kultur im Allgemeinen und der Jazz im Besonderen gefördert werden. Das geschieht auch überall in Deutschland, durch Kommunen, Länder und den Bund. Nur scheint niemand mit den Quantitäten und Qualitäten des Förderns wirklich zufrieden zu sein. Abgeordnete aus der Bundestagsfraktion der SPD haben sich mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung gewandt, um zu erfahren, was gefördert wird und nach welchen Kriterien die Fördermittel vergeben und kanalisiert werden. Die Antwort in der Bundestagsdrucksache 17/7222 gibt den Blick frei auf gar nicht mal ganz knauserige, aber bestürzend planlose Verhältnisse: Für die Förderung gibt es keine verbindlichen Kriterien außer einer „gesamtstaatlichen Relevanz“, die mit dem, was gefördert wird, wenig zu tun hat. Die Fördermaßnahmen sind unkoordiniert in verschiedenen Ministerien verankert (Kultur und Medien, Wirtschaft und Technologie, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Verteidigung, Auswärtiges Amt). Die Initiativen und Körperschaften, die die Fördermittel verteilen, verfolgen oft eigene Interessenkonstellationen und Konzepte. Ein nicht ganz kleiner Teil der Mittel ist in institutionellen Förderungen oder durch vertragliche Regelungen fast unverrückbar gebunden. Die meisten davon sind in der Hauptstadt angesiedelt, in die 37 Prozent der für Musik zur Verfügung stehenden Bundesfördermittel fließen.

Pierre Alexandre Tremblay Splice: Blurred boundaries in Post-Free-Jazz practice

Since the death of the Fidelity Myth of the recording age, and with the super-power of portable computers, the line between real-time and differed-time has blured: the studio has become a full-fledged composition instrument, and the stage an electroacoustic lab. Add to this portable random access to hundreds of years of musics of all styles, and we get a new generation of composers completely ignore boundaries, or deliberately blurs them. To illustrate this in practice, post-free-jazz quartet Splice’s approach will be dissected.

18. Arbeitstagung in Remagen | 31. August und 1. September 2011

Wild Card – Themenoffene Tagung

Das Tagungsprogramm

  • Márton Szegedi Zum musikalischen Schaffen von John Scofield – Ausgewählte Analysen zu Kompositionen und Improvisationen
  • Stuart Nicholson Jazz Policy, the BBC and Outsourcing
  • Oliver Weindling The Archaeology of London Jazz
  • Michael Rüsenberg Anmerkungen zu „Cognitive Dimensions of Instrumental Jazz Improvisation“ von James Fidlon (Austin/Texas)
  • Arne Schumacher und Bernd Hoffmann im Gespräch mit Reiner Michalke 25 Jahre Stadtgarten Köln – eine Bilanz
  • Herbert Uhlir Aktuelle Jazz-Festivals in Österreich, eine Übersicht

17. Arbeitstagung in Passau | 25. bis 27. Mai 2011

Jazz and Contemporary Music

Über 20 Teilnehmer hatten sich Ende Mai auf den Weg in die Dreiflüssestadt in Bayern gemacht, um sich dem Thema „Jazz und Neue Musik“ zu widmen. Abgesehen von leichten Startschwierigkeiten (Bombenfunde, Baustellen und Unfälle hatten just an diesem Mittwochmittag Südostbayern von der Außenwelt zeitweise komplett abgeschnitten) lief die Tagung reibungslos, und das in einer einzigartigen Umgebung.

Das Tagungsprogramm

  • Prof. Dr. Ekkehard Jost Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik
  • Harry Lachner Von Annäherungen und Missverständnissen – Einer kleine Beziehungsgeschichte zwischen Komposition und Improvisation.
  • Günther Huesmann „What Thou Wilt“ – Anmerkungen zu John Zorns „classical works“
  • Harry Vogt Aktuelle Tendenzen der Neuen Musik
  • Prof. Dr. Franz Krieger Expressionistische Gestaltungsmittel bei Herbie Hancock
  • Martin Laurentius im Gespräch mit dem Ensemble-Modern-Posaunisten Uwe Dierksen Comprovised Music
  • Prof. Dr. Maximilian Hendler Neue Musik: Ein Terminus und sein ethnozentristisches Potential
  • Dr. Thorsten Wagner Improvisation oder Komposition? Zum ästhetischen Konzept der Improvisationsgruppe Nuova Consonanza

Alles im Fluss…

Für die Tagungsreferenten in Passau war es ein ganz besonderes Hintergrundbild: wenn sie über die Köpfe der Zuhörer hinwegschauten, konnten sie die gemächlich vorüber ziehenden Schiffe auf der Donau sehen. Über 20 Teilnehmer hatten sich Ende Mai auf den Weg in die Dreiflüssestadt in Bayern gemacht, um sich dem Thema „Jazz und Neue Musik“ zu widmen. Abgesehen von leichten Startschwierigkeiten (Bombenfunde, Baustellen und Unfälle hatten just an diesem Mittwochmittag Südostbayern von der Außenwelt zeitweise komplett abgeschnitten) lief die Tagung reibungslos, und das in einer einzigartigen Umgebung. Dank des unermüdlichen Einsatzes von Paul Zauner fand die Tagung in den stimmungsvollen Gemäuern des Cafés im Museum Moderner Kunst statt, mitten in der Altstadt und am Donauufer gelegen.

Prof. Ekkehard Jost aus Gießen eröffnete die Tagung mit seinem Referat, in dem er auf Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik einging. „Von Annäherungen und Missverständnissen“ wusste der Münchner Publizist Harry Lachner zu berichten, in seinem Vortrag skizzierte er eine kleine Beziehungsgeschichte zwischen Komposition und Improvisation.

Viele Aspekte an der Schnittstelle zwischen Neuer Musik und Jazz, zwischen Komposition und Improvisation, wurden am ersten Tag angerissen, viele Fragen beantwortet und viele Fragen aufgeworfen, die dann beim abendlichen Glas Bier weiter vertieft wurden.

Tag zwei begann mit einem Gastreferenten aus Köln: Harry Vogt ist Redakteur für Neue Musik im Kulturradio WDR 3. Er berichtete über aktuelle Tendenzen der Neuen Musik nicht nur aus der Sicht eines Radiomachers, sondern auch aus der eines Produzenten und Organisators. Dank dieser „Ämterhäufung“ kennt Vogt die unterschiedlichen Perspektiven und lieferte in seinem Vortrag einen guten Überblick über aktuelle Tendenzen in diesem Bereich.

Franz Krieger, Professor am Institut für Jazzforschung in Graz, sezierte in Bild und Ton die Musik des Pianisten Herbie Hancock. Sonst eher flüchtig gehörte Musikpassagen von Hancocks Klavierspiel wurden durch Kriegers detaillierte Transkriptionen transparent und nachvollziehbar.

Uwe Dierksen gewährte dem Plenum im Anschluss Einblicke in die Arbeit eines Musikers: Dierksen ist Posaunist beim Ensemble Modern und unterhält auch eigene Musikprojekte. In seinem Vortrag ging es um kreative Prozesse. Er zeichnete den langen Weg nach, wie bei ihm aus einer musikalischen Idee eine Komposition entsteht. Ganz ohne Worte kam der zweite „Auftritt“ von Uwe Dierksen aus, als er am Abend mit einem Solo-Konzert ein exklusives „RJR“-Konzert gab.

Prof. Maximilan Hendler richtete in seinem Referat den Fokus in Richtung Afrika und erörterte den Terminus „Neue Musik“ im Hinblick auf sein ethnozentristisches Potential. Zum Abschluss sprach Thorsten Wagner über das Verhältnis von Komposition und Improvisation am Beispiel der Improvisationsgruppe „Nuovo Consonanze“ und deren ästhetischem Konzept.

Wenige Schritte vom Tagungsort im Cafe Museum fließt der grün-blaue Inn in die bräunliche Donau – ein prächtiges Natur- und Farbenspiel. Und ein schönes (Vor-) Bild, dass auch in der Musik alles fließt und gerade die Begegnung von Jazz und Neuer Musik faszinierende, andersartige Klangfarben entstehen lässt.

Jörg Heyd

16. Arbeitstagung in Münster | 6. bis 7. Januar 2011

16. Arbeitstagung, 6. bis 7. Januar 2011 in Münster

Länderschwerpunkt Norwegen

Zu Beginn des Jahres kam der Verein Radio Jazz Research zu seiner 16. Arbeitstagung zusammen, zum dritten Mal war diese im Parkhotel Schloss Hohenfeld bei Münster – im Vorfeld des dortigen Jazzfestivals – anberaumt. Thematisch wurde die lose Länderschwerpunktreihe fortgesetzt, die norwegische Jazzszene stand diesmal im Brennpunkt der Referate und Musikergespräche.

Das Tagungsprogramm

  • Dr. Andy J. Hamilton Jazz as classical music
  • Prof. Stuart Nicholson The Nordic Tone
  • Karsten Mützelfeldt THE NOR-WAY oder: „Wir sind die Wikinger von heute!“ – Zur Eigenart und Pflege eines nordischen Kreativ-Stammes
  • Prof. Stuart Nicholson im Gespräch mit dem norwegischen Musiker Per Zanussi
  • Bo Grønningsæter Förderung und Export – Einblicke
  • Jan Granlie Die Jazz-Medienlandschaft Norwegen
  • Stuart Nicholson im Gespräch mit dem norwegischen Musiker Håkon Kornstad

Mit „The Nordic Tone in Jazz“, dem Eröffnungsvortrag des englischen Musikjournalisten Stuart Nicholson, wurde gleich zu Beginn ein zentrales Thema angerissen. Nicholson skizzierte (in Anlehnung an das entsprechende Kapitel seines Buchs „Is Jazz dead? (Or Has It Moved To A New Address)“) die Entstehung des von ihm postulierten „nordic tone”, deren Wurzeln ihm zufolge in der dünn besiedelten Landschaft Skandinaviens liegen, in durch lange Winter entschleunigten Arbeitszyklen: Bedingungen, die, so Nicholson, ein Nachdenken über Leben und Tod begünstigen. Eine existenzielle Grundhaltung, die sich auch in der Volksmusik manifestiere, und die so ab den 1950er-Jahren in den Jazz eingeflossen sei – angeregt durch Stan Getz, der 1951 im Zuge einer Schweden-Tournee das Volkslied „Ack Värmeland du Sköna“ aufnahm: Für viele skandinavische Jazzmusiker ein Anstoß, sich in der Musik eigener Wurzeln zu besinnen. In weiterer Folge führte Nicholson u. a. Lars Gullin, Bengt-Arne Wallin, Jan Johanssen, George Russell (ab 1964 einige Jahre in Schweden beheimatet), Jan Garbarek und das junge Helge Lien Trio als Zeugen der Entwicklung des „nordic tone“ an.

Ausführungen, die in der Diskussion sogleich auf Widerspruch stießen: Vom „Nordic Tone“ als „Mythos“ (Bo Grønningsæter) war da die Rede, es wurde auf den Widerspruch zwischen friedvoller Natur und dem harten Überlebenskampf der Bewohner verwiesen, ebenso auf eine Aussage von Sängerin Karin Krog, die auf die zentrale Rolle des Münchener ECM-Labels hinwies: „The nordic tone was an invention of Manfred Eicher.“

Karsten Mützelfeld (WDR) stellte in seinem „THE NOR-WAY oder: ‚Wir sind die Wikinger von heute!’“ betitelten Vortrag die Diskussion der Frage, ob es sich beim Phänomen des „Nordic Tone“ um von außen projizierten Exotismus oder tatsächlich um eine gewachsene Tradition handelt, auf eine breitere, differenzierte Basis: Mützelfeld zitierte einerseits Musiker wie den norwegischen Saxofonist Karl Seglem, nach dem Jazz mit volksmusikalischen Bezügen vor allem in Deutschland, weniger in seiner Heimat, gefragt sei, wie auch den Coltrane-beeinflussten Kollegen Petter Wettre, dessen Musik nicht als genuin „norwegisch“ verkauft werden könne und deshalb weniger nachgefragt werde. Andererseits, so Mützelfeld, seien da junge Bands wie das norwegische Quintett „Atomic“ oder das Metal-Jazz-Ensemble „Shining“, die ihre Musik in bewusster Gegenreaktion auf die als „Mountain Jazz“ apostrophierten, sphärischen Klangmeditationen entwickelt hätten und damit sehr wohl international Gehör fänden.

Vertiefende Innenansichten der norwegischen Jazzszene boten die von Stuart Nicholson moderierten Musikergespräche mit Bassist Per Zanussi und Saxofonist Håkon Kornstad, die mit der „Zanussi Five“ bzw. im Duo mit Vokalistin Sidsel Endresen das Jazzfestival Münster schmückten, sowie Vorträge zweier nicht-musizierender Repräsentanten: Jan Granlie, Herausgeber der Magazins JazzNytt, skizzierte die Lage der Jazz-Medienlandschaft Norwegens und stellte diese alles andere als rosig dar: Während Granlie in seiner kurzen historischen Chronologie in den 1940er- und 1950er-Jahren eine erstaunliche Fülle an – freilich kurzlebigen – Magazinen anführte, sei die Situation des Jazz in Tagespresse und Rundfunk heute ebenso schwierig wie die seines bereits seit 1960 erscheinenden Magazins „JazzNytt“.  „Nobody is writing about jazz in Norway anymore“, so Granlies etwas kulturpessimistische Conclusio, die möglicherweise durch den Umstand relativiert werden muss, das JazzNytt bis dato kaum auf begleitende Maßnahmen im Internet setzt.

Bo Grønningsæter (West Norway Jazz Center) hingegen gab einen Überblick über die durchaus bedeutenden staatlichen Förderstrukturen den norwegischen Jazz, die sich als Teil nationaler Export-Diversifizierung, als strategisch entwickelte Alternative zur Öl- und Fischindustrie, verstünden. So sei man mit dem „Jazz Norway in a NutShell“-Programm nicht nur in Europa, sondern auch in Hongkong, Australien, Korea und auf den Philippinen präsent. Das in Analogie zum „Dutch Jazz Meeting“ organisierte Nattjazz-Festival in Bergen, zu dem Veranstalter aus ganz Europa eingeladen werden, hätte zu rund 500 Engagements norwegischer Musiker geführt. Wobei die Praxis, sich an den Kosten durch Übernahme der Reisespesen zu beteiligen, als Anreiz fungiert.

Einen thematischen Exkurs in andere Gefilde bedeutete der Vortrag „Jazz as classical music“, in dem sich Andy J. Hamilton (Durham University) mit verschiedenen Sichtweisen von Jazz als (amerikanischer) klassischer Musik – u. a. in Gestalt der Positionen Billy Taylor und Wynton Marsalis‘ – und deren Implikationen auseinander setzte.

Andreas Felber

15. Arbeitstagung in Freiburg | 15. und 16. September 2010

15. Arbeitstagung, 15. bis 16. September 2010 in Freiburg

Wild Card – Themenoffene Tagung

Unter dem Titel „Im Dialog mit den USA – Entwicklungen des Jazz in Europa in den 1960er und ’70er Jahren“ widmete sich der in Mannheim lehrende Jazzhistoriker Jürgen Arndt den beiden hauptsächlichen Perspektiven der Jazzgeschichtsschreibung dieser Periode. Deren eine entstammt dem englischsprachigen Bereich und betont insbesondere den Zusammenhang des Jazz mit den Entwicklungen im Blues und im Rock. Die zweite, primär den Veröffentlichungen von Ekkehard Jost geschuldete, steht für den deutschen Sprachraum und betont – wen wundert es angesichts ihres Protagonisten? – vorderhand den Zusammenhang von Jazz und Avantgarde.

Das Tagungsprogramm

  • Prof. Dr. Jürgen Arndt Im Dialog mit den USA – Entwicklungen des Jazz in Europa in den 1960er und 70er Jahren
  • Pius Knüsel im Gespräch mit Michael Rüsenberg Jazzförderung in der Schweiz
  • Prof. Stuart Nicholson Jazz and the Media Today
  • Dr. Bernd Hoffmann Das Orchester Kurt Edelhagen
  • Thomas Mau Das Europäische beim Orchester Kurt Edelhagen
  • Tina Heine im Gespräch elbJazz – Binnensicht auf ein neues Festival
  • Prof. Dieter Manderscheid im Gespräch mit Jörg Heyd Jazz in der Hochschulausbildung
  • Prof. Dr. Franz Krieger „Matrix“: Komposition – Improvisation. Aspekte des musikalischen Schaffens von Chick Corea

Jürgen Arndt widmete sich der Frage, ob diese beiden Positionen nicht vielleicht doch näher beisammen liegen, als dies a priori erscheint, und er ging in seiner Argumentation auf Literatur ein (insbesondere Andreas Reckwitz und Paul Stump) wie auch auf musikalisch-soziologische Bedeutungsträger (u. a. Alexis Korner und die Graham Bond Organization). In einem nächsten Schritt widmete er sich der Musikgruppe „Cream“ und stellte diese in zeitgenössischen Rezensionen dar. Sein Fazit, dass dieses Ensemble eine der wichtigen frühen Jazzrock-Formationen war, sorgte in der an das Referat anschließenden Diskussion für recht konträre Stellungnahmen.

Zum Bereich „Jazz und Avantgarde“ thematisierte der Referent den Komponisten John Cage und dessen Umfeld: die New-York-School sowie deren radikale Fortsetzung, die Fluxus-Bewegung. Daran anschließend ging Arndt auf Peter Brötzmann und dessen Zusammenarbeit mit Nam June Paik ein, und zuletzt wurde Misha Mengelberg erörtert, der ja ebenfalls von John Cage und Fluxus wesentlich beeinflusst wurde. Das letztendliche Resumee, dass zwischen den beiden eingangs erwähnten Positionen durchaus Zusammenhänge zu erkennen seien, wurde abrundend durch etliche Tonbeispiele exemplifiziert. Wen bis dahin das gesprochene Wort ein ausreichendes Maß befriedigender Einsicht verwehrt hatte, dem wurde doch mit der erklingenden Musik gewahr, dass die Gesamtthematik noch mehr als genug Diskussionsbedarf impliziert. Dass diesbezügliche Wortmeldungen – durchaus auch in Form humorvoller Nebenbemerkungen – die ganze weitere Tagung durchzogen, spricht für die interessante Thematik dieses Vortrages.

In seinem Vortrag „Jazzförderung bei Pro Helvetia“ gab der Pro-Helvetia-Geschäftsführer Pius Knüsel einen Überblick über diese 1939 gegründete schweizerisch-staatliche Kulturförderung. Demnach liegt der Auftrag von Pro Helvetia in den Bereichen Werkförderung, Kulturpromotion und Kulturaustausch im Inland und auch im Ausland. Bei einem jährlichen Budget von knapp 4 Millionen Schweizer Franken für die Sektion Musik wird zwischen den Abteilungen Klassik, Pop, Jazz und Folk unterschieden, wobei auf den Bereich Jazz ca. 700.000 Schweizer Franken fallen. Dieser Budgetanteil entspringt jedoch keiner Quotenregelung, sondern es gibt einen ständigen Konkurrenzkampf um das Portfolio.

Die Kriterien, nach denen u. a. Tourneen, Festivals und mehrjährig bestehende Ensembles gefördert werden, gehen (a) auf die Nachhaltigkeit des Projekts ein, (b) darauf, ob es sich um einen anerkannten Veranstalter handelt, weiters, (c) ob zeitgenössische Musik vorliegt – denn nur solche wird gefördert! – und (d) ob die Musiker professionelles Können an den Tag legen oder (auch) experimentell agieren. Als Entscheidungsträger für die Vergabe der Geldmittel fungieren die Geschäftsstelle (bei Summen bis 20.000 Franken) oder der Stiftungsrat.

Nach der Darstellung diverser Details (Höhe von Gagen, Ausmaß der Eigenfinanzierung usw.) ging Knüsel auf die Prinzipien und Ziele diverser Jazz-Förderschienen ein, u. a. auf die Labelförderung sowie die für Jazzmusiker besonders relevante prioritäre Jazzförderung. Letzteres sind dreijährige Leistungsvereinbarungen mit ausgewählten Jazzbands, die pro Jahr mit 25.000 Franken für Auslandstourneen, CD-Produktionen und Kompositionen unterstützt werden.

Die sich an das Referat anschließende Diskussion problematisierte die teilweise extrem unscharfe Profilbildung vieler Jazzfestivals, und es wurde hervorgehoben, dass die grundsätzliche Aufgabe von Pro Helvetia nach wie vor eine politische sei. Knüsel betonte diesbezüglich, dass die Gründung von Pro Helvetia eine Reaktion auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges war, da die Gefahr bestand, dass sich die deutschsprachige Schweiz Deutschland anschließt. Die heutige politische Aufgabe von Pro Helvetia bestehe darin, die durch mediale Übersättigung hervorgerufene Ignoranz des Publikums zu bekämpfen.

Der aus Großbritannien stammende und zuletzt durch sein Buch „Is Jazz Dead?“ ins Rampenlicht gerückte Stuart Nicholson brachte mit seinem Vortrag „Jazz and the Media Today“ die Kurzfassung einer Dokumentation, die er im Frühjahr 2010 für die BBC verfasst hatte. Dabei stellte er Trends dar, die primär Großbritannien betreffen, jedoch in Ursache wie auch Auswirkung durchaus auf Kontinentaleuropa übertragbar sind. Ausgangspunkt seiner Erläuterungen war die Feststellung, dass die bedeutungsschwere Beziehung von Jazz und Medien so alt ist wie der Jazz. Diese Beziehung habe auch zu keiner Zeit mehr aufgehört, sich jedoch in ihrer Tiefe gewandelt. Nicholson unterlegte dies mit verschiedenen Beispielen und hob hervor, dass es in den 1990er Jahren bis kurz nach der Jahrtausendwende eine durchaus erfreulich intensive Auseinandersetzung der Medien mit dem Jazz gegeben habe: In der Qualitätspresse seien Features, Konzert- und CD-Rezensionen erschienen, in den Kulturkanälen des Fernsehens habe es gelegentlich Jazz-Dokumentationen gegeben, musikalische Jazzklassiker hätten im TV immer wieder einmal Verwendung gefunden usw. In den letzten Jahren sei jedoch das Interesse der Medien am Jazz signifikant zurückgegangen.

Dieser Feststellung schloss Nicholson eine Reihe von Fragen an, die dann auch die auf das Referat folgende Diskussion bestimmten: In welcher Weise wird Jazz innerhalb der heutigen Medienumgebung vom Publikum rezipiert? Entwickelt sich die populäre Kultur zu einer Mainstreamkultur? Besteht die aktuelle europäische Mainstreamkultur tatsächlich aus Namen wie Britney Spears und Eminem?

In seinen eigenen Antworten hob Nicholson hervor, dass das Zielpublikum für diese medial-kulturellen Erscheinungen junge Mädchen im Alter zwischen 8 und 16 Jahren seien. Davon ausgehend verwies er auf einen kulturellen Wandel, der in den letzten zehn Jahren Platz gegriffen habe und beleuchtete in diesem Zusammenhang drei kulturelle Konzepte, die seinen Worten nach mittlerweile unser aller kulturelle Realität formen: „Relativism“ (jede Meinung ist subjektiv und hat insofern ihren Wert und ihre Wahrheit; subjektive Wahrheit hat die objektive ersetzt), „instrumentalist ethos“ (der Wert einer Sache bemisst sich an deren – nicht zuletzt ökonomischen – Verwendbarkeit; die Summe solcher Erscheinungen wird ökonomischer Fortschritt genannt) und „anti-elitism“ (das Elitäre wird unter das Volk gebracht, indem das Elitäre massentauglich gemacht wird). Vor allem die Printmedien, so Nicholson, hätten diese neue Ausrichtung vollzogen, um „to appear relevant, accessible and in touch with popular opinion“ und kümmerten sich seither primär um Pop, Rock und Film.

Das hinsichtlich des Jazz bedrückende Fazit brachte Nicholson sprachlich prägnant auf den Punkt: „no distinction is made between knowledge and opinion, the latter usually predominating“.

Musikalische Analyse stand im Mittelpunkt des Referates von Franz Krieger (Graz, Institut für Jazzforschung). Unter dem Titel „‚Matrix‘: Komposition – Improvisation. Aspekte des musikalischen Schaffens von Chick Corea“ wurde der Frage nachgegangen, nach welchen musikalisch-strukturellen Gestaltungsweisen Chick Corea komponiert sowie die Reharmonisationen seiner Soli gestaltet. Das dabei untersuchte Musikstück, „Matrix“, entstammt der jazzhistorisch bedeutsamen LP „Now He Sings, Now He Sobs“ aus dem Jahre 1968. Als wesentliche Resultate wurden folgende Gestaltungsprinzipien dieser sehr komplex wirkenden Musik hervorgehoben: (1) Chick Corea findet mit wenigen, grundlegenden Gestaltungsmitteln das Auslangen (Gegensatzpaar Einfachheit–Komplexität; Sus-Akkord als Schwebeklang; Rückung als Verfremdung). (2) Aus dem hohen Tempo ergibt sich zusätzliche Komplexität. (3) Dem Publikum werden durch einfache, wiedererkennbare Passagen immer wieder musikalische Orientierungspunkte geboten. Diese schaffen die Akzeptanz für extreme Komplexität.

Der Beitrag von Bernd Hoffmann, dem Leiter der Jazzredaktion des Westdeutschen Rundfungs (WDR), unter dem Titel „Das Orchester Kurt Edelhagen im Film“ war nicht als Referat im üblichen Sinn, sondern als Präsentation ausgewählter Filmpassagen konzipiert. Die derart vorgestellten Ausschnitte (u. a. „Bühne frei für Marika“ mit Marika Rökk aus dem Jahr 1947 sowie „Armer Gigolo“ aus dem Jahr 1959) stammen aus den Archiven des WDR, wo sie öffentlich nicht zugänglich sind und daher für das Publikum dieser Tagung von umso größerem Interesse waren.

Ebenfalls aus den Archiven des Westdeutschen Rundfunks, nun aber Tondokumente betreffend, schöpfte der WDR-Mitarbeiter Thomas Mau in seinem Referat mit dem Titel „Das Europäische beim Orchester Kurt Edelhagen“. Hierbei muss man sich vor Augen halten, dass es vom Kurt-Edelhagen-Orchester rund 3.000 Aufnahmen gibt, von denen jedoch nur die wenigsten veröffentlicht sind und die meisten in den WDR-Archiven lagern.

Der 1982 verstorbene Edelhagen, ein studierter Klarinettist, Pianist und Dirigent, wechselte 1957 vom Südwestfunk Baden-Baden zum WDR. Ab diesem Zeitpunkt widmete er sich vermehrt dem Anliegen, „europäischen“ Jazz zu kreieren So thematisierte der Referent die Frage, was denn, sofern vorhanden, das Europäische an seiner Musik war. Umrahmt von einer Fülle an interessanten Musikbeispielen (darunter eine Adaption des Frühlingsstimmenwalzers von Johann Strauß), gab Thomas Mau seine Antwort in vier Punkten: (1) Aufgabe des Beat zugunsten einer Rubato-Rhythmisierung; (2) Fehlen bzw. Reduzierung des Improvisatorischen; (3) Dominanz des Kompositorischen; (4) Verarbeitung von Themen aus Klassik und Volksmusik.

Die beiden abschließenden Beiträge der Tagung bestanden jeweils aus Interviews. Das erste, unter dem Titel „Tina Heine (Festivalleiterin) im Gespräch: Elbjazz – Binnensicht auf ein neues Festival“, führte Arne Schumacher. Seine Gesprächspartnerin Tina Heine, ihres Zeichens Gastronomin am Hamburger Hafen, entwickelte die Idee zu dem in seinem ersten Bestehensjahr bereits über die Bühne gegangenen Hamburger Jazzfestival Elbjazz. Zu diesem zwei Tage dauernden, am Hamburger Hafen an 15 Spielorten mit 56 Bands durchgeführten musikalischen Großereignis wurden Entstehung, Koordination, Probleme und deren Lösungen sowie vor allem auch finanzielle Aspekte erörtert. Auf besonderes Interesse stieß hierbei die Tatsache, dass es mit Heine einer Einzelperson gelungen war, die Initialzündung zu einer Jazzreihe dieser Größe zu geben.

Das zweite der Interviews lief unter dem Titel „Dieter Manderscheid (Dekan des Fachbereiches Jazz an der Kölner Musikhochschule) im Gespräch mit Jörg Heyd: Jazz in der Hochschulausbildung“. Manderscheid schilderte hierbei den Weg, den ein Jazzinteressierter zu bewältigen hat, um Jazz-Studierender in Köln zu werden. So ist es u. a. unerlässlich, dass Bewerber bereits ausreichend Ensemble-Erfahrung haben, und dennoch stehen den rund 350 Personen, die pro Jahr zur Aufnahmeprüfung antreten, nur insgesamt 10 bis maximal 30 Studienplätze gegenüber. Zudem gibt es, je nach Instrument, Unterschiede in der Anzahl der Bewerber. So sind zuletzt im Fach Schlagzeug 65 Personen zum Aufnahmetest angetreten, denen drei Studienplätze gegenüberstanden. Verschärft wird diese Situation für Bewerber dadurch, dass sie in Köln nicht öfter als zweimal zur Aufnahmeprüfung antreten dürfen. Sind sie zweimal durchgefallen, dürfen sie dieses Fach in Köln nie wieder studieren.
Das Studium dauert 8 Semester, und das Curriculum sieht lediglich im ersten Jahr so gut wie keine Wahlmöglichkeiten für die Studierenden vor. In diesem Abschnitt kommen allerdings auch bereits jene Fächer vor, die die nötigen Managementkenntnisse und praktischen Erfahrungen zur Selbstvermarktung vermitteln sollen. Hochschulgebunden exemplifiziert werden diese Jahr für Jahr in einem dreitägigen Festival, das die insgesamt rund 100 Studierenden selbst organisieren und bespielen.

Befragt nach dem Renommee der Kölner Jazzausbildung, verwies Manderscheid darauf, dass im Vergleich zu den angesehenen holländischen Bildungseinrichtungen wie auch zum Berklee College Of Music die Studierenden fast ausschließlich von außen nach Köln kommen. Die Hauptgründe dafür liegen, so der Referent, neben der Person des Hauptfachlehrers in erster Linie an den in Köln vorhandenen musikalischen Spielräumen.

Franz Krieger

14. Arbeitstagung in Schaffhausen | 7. und 8. Mai 2010

14. Arbeitstagung, 7. bis 8. Mai 2010 in Schaffhausen

Jazz in der Schweiz

Am 7. und 8. Mai 2010 folgten die Mitglieder des Radio Jazz Research einer Einladung Urs Röllins nach Schaffhausen. Der Festivalleiter lud zum 7. Mal zu den „Schaffhauser Jazzgesprächen“ im Vorfeld des Schaffhauser Jazzfestivals. Die 14. Arbeitstagung von Radio Jazz Research fand dementsprechend unter dem Motto „Jazz in der Schweiz“ statt.

Das Tagungsprogramm

  • Schaffhausener Jazzgespräche Jazz und soziale Krise
  • Bruno Spörri Von der «Tschetzpend» zum Halbstarkenbunker – von den Anfängen des Jazz in der Schweiz
  • Christian Steulet Jazz und Kulturpolitik in der Schweiz
  • Prof. Dr. Ekkehard Jost Barbü Lüdi – Ein Wegbereiter des Free Jazz in Europa? Musikalisch und fotografisch belegter Bericht eines Zeitzeugen
  • Peter Bürli Jazz im Radio in der Schweiz
  • Schaffhausener Jazzgespräche Jazz und mediale Krise

Das erste Schaffhauser Jazzgespräch bildete dann auch den Auftakt zur zweitätigen Arbeitstagung und lud mit dem Titel „Jazz und soziale Krise: Lieber allein als zusammen“ zur Diskussion ein. Ein für die meisten Gäste aus Deutschland weitgehend unbekanntes Thema: der Röschtigraben. Die Überwindung der kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Schweizer Kantonen beschert auch Jazzern, die auf Weltoffenheit und Grenzgängertum schwören, offensichtlich Mühe. Erfolglos waren und sind die Versuche der helvetischen Föderation mittels Kooperation diesem Problem der kulturellen Gräben zwischen der deutschen, der italienischen, der französischen und der rätoromanischen Schweiz zu begegnen. Antworten auf die Frage der daraus folgenden sozialen Krise in der Schweiz suchte man mit organisierten Austauschprogrammen zu begegnen, deren Vor- und Nachteile lebhaft diskutiert wurden.

Einen tieferen Einblick in die Jazzgeschichte der Schweiz bot den Mitgliedern von Radio Jazz Research im Anschluss Saxofonist und Klangforscher Bruno Spoerri. Der Autor und Herausgeber des Werkes „Jazz in der Schweiz“ gab einen Überblick von den Anfängen bis zur aktuellen Situation des Jazz in seinem Heimatland. Unter dem Motto „Von der Tschetzpend zum Halbstarkenbunker“ berichtete der Zeitzeuge vom Jazz in einem Land, das in der Jazzwelt nur am Rande wahrgenommen wird, aber dennoch einige große Persönlichkeiten hervorgebracht hat.

Prof. Dr. Ekkehard Jost porträtierte in einem Vortrag den Schweizer Musiker Barbü Lüdi. Anhand von Fotografien und Musikbeispielen ging Jost der Frage nach, ob der Schweizer Altsaxofonist ein Wegbereiter des Free Jazz in Europa war. Lüdi, mit bürgerlichem Namen Werner Lüdi, ging Ende der 1950er Jahre nach Hamburg, spielte dort in verschiedenen Hardbop-Amateurgruppen und ging um 1963 für kurze Zeit mit der Gruppe von Gunter Hampel auf Tour. Später zog er sich dann von der Jazzszene zurück. Woran Ekkehard Jost unter anderem erinnerte, war seine expressive Improvisationsweise, die so manchen Cool- und Westcoast-Anhänger aus dem Gleichgewicht brachte. Einen Einblick in die Jazz-Radiolandschaft der Schweiz gab es von Peter Bürli, dem Redaktionsleiter Jazz im DRS 2 Radio.

Ein weiteres Schaffhauser Jazzgespräch wurde von einem Referat Dr. Bernd Hoffmanns eingeleitet, der die mediale Krise und das daraus folgende Schattendasein des Jazz in Deutschland skizzierte. Unter dem Titel „Kein Platz für schräge Töne“ zeichnete er ein Bild von der teilweise katastrophalen Situation des Jazz in den deutschen Medien. Im Anschluss diskutierten unter anderem Barbara Gysi, Musikchefin von DRS 2 und Manfred Pabst, Kulturchef NZZ am Sonntag, über die Gefahr, dass der Jazz, angesichts krisenbedingter Umwälzungen in der Medienbranche, in die mediale Bedeutungslosigkeit absinkt. Heftige Kritik übten die Teilnehmer der Diskussion vor allem am Schweizer Fernsehen. Christian Eggenberger, Musikchef von SF Kultur, musste sich die Frage stellen lassen, warum Jazz nicht mehr oder nur noch peripher im Kulturfernsehen stattfindet.

13. Arbeitstagung in Remagen-Rolandseck | 28. und 29. Januar 2010

13. Arbeitstagung, 28. bis 29. Januar 2010 in Remagen-Rolandseck

Jazz & Business

Jazz und Business? Für hartnäckige Puristen und unverbesserliche Romantiker zwei vermeintliche Gegensätze, die Unvereinbarkeit von Himmel und Hölle. Das Image des Underdogs mit Elite-Bewusstsein lässt sie das Selbstmitleid pflegen und ein bittersüßes Klagelied anstimmen: den Randgruppen-Blues. Das Wort „Markt“ mögen sie im Glauben, nicht Teil desselben zu sein, noch geflissentlich überhören. Beim Wort „Vermarktung“ stimmen sie aber ein Requiem an: die Ballade vom Abschied von der Freiheit, also known as JAZZ.

Das Tagungsprogramm

  • Stefan Hentz Die Elbe ruft, der Jazz geht unter? Zur Hamburger Situation zwischen Kultur und Event
  • Arndt Weidler Deutscher Jazz fürs Ausland? „Exporthilfe“ durch das German Jazz Meeting
  • Reiner Michalke & Hans-Jürgen Linke Eine Perspektivverschiebung? Jazz im deutschen Feuilleton
  • Volker Dueck & Martin Laurentius The Next Generation Of Young German Jazz. Was das Jazzbusiness der Szene zurückgibt
  • Matthias Winckelmann & Nils Wülker Big Business? Small Business? Enja Records & Ear Treat Music
  • Paul Zauner Improvisierte Musik als „Kultur-Finanz-Faktor“? Die Vergabepraxis der nationalen Stiftungen (Initiative Musik & Bundeskulturstiftung)

Die Elbe ruft, der Jazz geht unter?

Hamburg & Business ist alles andere als ein Widerspruch. Eine Hansestadt mit großer Handelstradition, derzeit bemüht, ihr kulturelles Image aufzupolieren – hin zu einer chicen, Lifestyle-orientierten Metropole. Die Strategen der Hamburg Marketing GmbH wollen HH als Marke etablieren. Mehr Schein als Sein, monieren die Kritiker. Jüngst schlossen sich Künstler der Stadt zu einem Bündnis zusammen, um zu protestieren: gegen geplante Kürzungen im Kulturetat und gegen die Vermarktung eines hanseatischen Hochglanzimages ohne störende Schönheitsflecken. Ein neues, privat initiiertes Projekt im Spannungsfeld „zwischen Kultur und Event“ ist Elb-Jazz, mitten in die neu gestaltete Hafenstadt platziert: ein Ende Mai erstmals über zehn Bühnen gehendes Festival. Das Ziel: die kulturelle Belebung des Investorenraums Hamburger Hafen. Eine Veranstaltung, die sich an Jazzfreunde, aber auch an Touristen wendet und mit dem Reiz ungewöhnlicher locations lockt. Eine privatwirtschaftlich finanzierte Initiative, von der abzuwarten ist, wie sehr sie die eigene Szene mit einbindet. Man wird sehen. Und hören. Derweil tummeln sich Hamburger Jazzbands an der Waterkant ungleich wärmerer Gewässer, beim Jazzfestival in Dubai…

Deutscher Jazz fürs Ausland? „Exporthilfe“ durch das German Jazz Meeting

Mit Dubai hat Oslo klimatisch wenig gemein, wohl aber das gewinnbringende Glück des Öls. Wovon bisweilen selbst der Jazz profitiert. „That’s it! Enough! No more Norwegians!“, so der nach Remagen überlieferte Ausruf eines langsam an der nordischen Omnipräsenz verzweifelnden Besuchers des London Jazz Festivals. Angesichts des „gut geölten“ Exportsystems der Norweger kommt schnell das Schlagwort vom „Standortnachteil Deutschland“ auf. Auch Schweden, die Niederlande und Frankreich scheinen weiter im Bemühen zu sein, ihren Kreativkräften ausländische Märkte zu erschließen. In dieser Hinsicht aufzuschließen, ist Grundgedanke des 2006 ins Leben gerufenen German Jazz Meeting, einer im Zweijahresrhythmus stattfindenden Art nationaler Leistungsschau, bei der sich Bands mit zwanzigminütigen Kurzauftritten internationalen Festivalleitern und Veranstaltern präsentieren. Auch wenn aussagekräftige Ergebnisse über die Effizienz noch nicht vorliegen, so lässt sich feststellen, dass mittlerweile insbesondere jüngere Jazzmusiker aus hiesigen Breiten im Ausland mehr als zuvor wahrgenommen werden. Improvisatoren, die zudem offener für Marketing-Maßnahmen sind als die ältere Generation und die Scheu vor Öffentlichkeits-orientierter Selbstdarstellung abgelegt haben. Der langjährige Exportweltmeister Deutschland hat sich mit der Ausfuhr seines jazzmusikalischen Guts ebenso lange schwer getan. Doch es tut und bewegt sich was. German Jazz Meeting und Goethe sei dank.

Eine Perspektivverschiebung? Jazz im deutschen Feuilleton

Der in den letzten Jahren vollzogene quantitative und qualitative Aufschwung der hiesigen Szene ist unüberhörbar – indes, kaum „lesbar“. Im Blätterwald der Feuilletons taucht Jazz immer seltener auf, verdrängt vor allem vom Pop. Visuelle, weltanschauliche und (pseudo)soziologische Aspekte anstelle von musikalischen Analysen und Beleuchtungen. Jazz-Rezensionen: ein Format vom Aussterben bedroht. Neben (Zeilen-)Platzhirschen wie Oper und Neue Musik bevölkern die A- bis C-Prominenz der Stars und Sternchen des Pop, aber auch kultige Indie-Rockbands wie Vampire Weekend die Kulturseiten Eine Präsenz, die aus dem jazzenden Lager allenfalls – wenn überhaupt noch – dem guten (& bösen) alten Keith Jarrett zuteil wird. Popjournalisten wittern wachsende Freiräume für ihr botschaftsschwangeres Sendungsbewusststein. Jazzjournalisten ziehen die ökonomisch reizvollere Rundfunkarbeit vor, Feuilletonisten mit Jazz-Expertise werden immer rarer. Jazz scheint „nicht mehr Teil des Kultur-Kanons“ (Michael Rüsenberg) zu sein. Improvisiertes als Thema ist mehr denn je abhängig vom Interesse und Durchsetzungsvermögen einzelner Redakteure. Les Feuille(ton)s Mortes? Ein Blick ins benachbarte Ausland zeigt, dass für den Jazz nicht nur hierzulande die Kultur-Blätter verwelken. Ausnahme, wieder einmal: Norwegen…

The Next Generation Of Young German Jazz.

Bei den Fachzeitschriften sieht die Situation anders aus. Naturgemäß, möchte man meinen. Doch die aktuelle Lage in Frankreich, Italien und Österreich offenbart, wie wenig auch dieses Segment vor Einschnitten gefeit ist. Die Zahl der Abonnenten in Deutschland erweist sich demgegenüber als vergleichsweise stabil. In den Magazinen spiegelt sich nicht nur die einbrechende Hegemonie der Amerikaner und ein steigendes Selbstbewusstsein des europäischen Jazz, sondern auch das Wachstum der deutschen Szene. Jazz thing hat ihr u.a. mit „Homegrown“ eine eigene Kolumne gewidmet. Eine weitere Initiative ist die in Zusammenarbeit mit dem Label Double Moon Records entstandene CD-Reihe „Jazz thing Next Generation“: Junge Formationen aus dem deutschsprachigen Raum können hier ihr Debüt veröffentlichen und erhalten als Starthilfe für ihre Karriere einen Vertrag für ein (erstes) Album. Inzwischen ist daraus eine 31 Produktionen umfassende Serie geworden, die sich nach zu erwartenden Anfangschwierigkeiten „mittlerweile gut trägt“, so Volker Dueck von Double Moon Records. Dass mittlerweile zwei Drittel der Bewerbungen (Volker Dueck: „Einsendungen, die durchweg innovativer sind“) aus Berlin kommen, macht deutlich, wie sehr die Hauptstadt auch in jazzmusikalischer Hinsicht zum Epizentrum avanciert.

Big Business? Small Business?

Auch wenn das ökonomische Wagnis einer Debütreihe sich mehr oder weniger gut trägt, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Krise der Musikindustrie alles andere als überwunden ist. Im Gegenteil: „Der CD-Markt ist kollabiert“ (Dueck). (Legale) Downloads machen gerade einmal zehn bis zwölf Prozent des Umsatzes aus. Der Fachhandel droht gänzlich zu verschwinden, Fachgeschäfte mit Beratung lassen sich längst an einer Hand abzählen. Wie andere Firmen auch, so hat enja Records die Anzahl der Produktionen von einstmals 35 auf 15 pro Jahr reduziert. Wenn es einen Bereich gibt, in dem sich die Verkaufszahlen in letzter Zeit erhöht haben, dann im Rahmen von Konzerten. Ebenfalls nimmt die Zahl der Eigenverlage und Musikerlabel zu. Der Trompeter Nils Wülker hat als erster deutscher Musiker, der bei SONY unter Vertrag stand, den Schritt von einer Major Company hin zur Eigenvermarktung vollzogen. Und das mit Erfolg. Seine auf Ear Treat Music veröffentlichten Alben verkaufen sich „mittlerweile besser als zu Sony-Zeiten“, sagt Wülker. Jazzmusiker müssen eben auch in Überlebensfragen kreativ sein.

Improvisierte Musik als „Kultur-Finanz-Faktor“?

Eigeninitiative ist gefragt. „Man muss brennen, dann kann man die Musik auch verkaufen“, sagt Paul Zauner, Labelchef, Musiker, Veranstalter und Netzwerker, erfahren im Aufspüren und Umgang mit öffentlichen Geldern und Fördermitteln. Das Wissen um die Möglichkeiten, die sich durch Institutionen wie die Bundeskulturstiftung ergeben, durch das Förderprojekt für Zeitgenössische Musik, das Netzwerk Neue Musik oder das Fördermodell Initiative Musik, ist eines. Etwas anderes, sie für sich nutzen zu können. Da ist nicht nur ein bürokratisches Know-How vonnöten, das dem einer Behörde gleichkommt, sondern einmal mehr Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen. Auch und gerade gegenüber der Subventions-verwöhnten Neuen Musik und ihren Lobbyisten, im Vergleich zu den „verträumten Jazzern ungleich aggressiver in ihrer Akquise“ (Zauner).Neben vielen neuen Erkenntnissen hat Jazz & Business eine Binsenweisheit bekräftigt, die „so alt wie der Jazz“ (Ekkehard Jost) ist: Vieles, wenn nicht Alles hängt an der Initiative Einzelner, am Engagement von „Verrückten, die brennen“. So gilt die Losung – wie schon immer und jetzt erst recht: Packen wir’s an! „JAZZ WE CAN!“ lautete noch das zeitgeistige Motto beim JazzFest Berlin 2008 kurz nach der Wahl Obamas. Wir wär’s mit dem Slogan Spitzhacken-bewaffneter Straßenarbeiter in (dem jazzmusikalisch so lukrativen Markt von) Japan, die da rufen: „ENJA! ENJA!“ – „Hauruck! Hauruck!“